Rahmen sprengen

Von Anatol Stefanowitsch

Die kurze Erwäh­nung des Wortes „Fram­ing“ in diesem Beitrag war vielle­icht etwas kryp­tisch. Das liegt daran, dass ich den Beitrag vor der Veröf­fentlichung stark gekürzt habe und dabei die gesamte Fram­ing-The­o­rie her­ausgenom­men habe. Also lief­ere ich die hier nach, denn sie wird uns im Sprach­blog sich­er noch häu­figer beschäftigen.

Die Begriffe Frame und Fram­ing wer­den in den ver­schieden­sten Sozial­wis­senschaften, in der Psy­cholo­gie und in der Infor­matik ver­wen­det, und viele dieser Ver­wen­dungsweisen über­schnei­den sich oder sind miteinan­der ver­wandt. George Lakoff, den ich im Beitrag von let­zter Woche erwäh­nt habe, bezieht sich mit sein­er Ver­wen­dung aber speziell auf die Frame-Seman­tik von Charles Fill­more die in der Wikipedia tre­f­fend zusam­menge­fasst wird:

Die Frame-Seman­tik beruht auf der Ein­sicht, dass sich die Bedeu­tung eines sprach­lichen Aus­drucks (z.B. eines Wortes) nur erfassen lässt, wenn man über das entsprechende Weltwissen ver­fügt. Entschei­dend ist hier­bei in der Frame-Seman­tik die Annahme, dass dieses Weltwissen in soge­nan­nten Frames organ­isiert ist. Ein Frame ist dabei eine men­tale Repräsen­ta­tion ein­er stereo­typ­is­chen Sit­u­a­tion die von Sprech­ern aus der wieder­holten Erfahrung mit realen Sit­u­a­tio­nen abstrahiert wird und deren einzelne Ele­mente nur in Beziehung zueinan­der definiert wer­den kön­nen. In der Frame-Seman­tik geht man davon aus, dass jed­er sprach­liche Aus­druck (min­destens) einen solchen Frame aktiviert und in Bezug zu diesem Frame ver­standen wird.

Die Wikipedia liefert auch das Stan­dard­beispiel für einen Frame:

So kann man z.B. das Wort kaufen nur in Bezug zu einem Frame ver­ste­hen, den man als KOMMERZIELLE TRANSAKTION beze­ich­nen kön­nte. Zu diesem Frame gehören min­destens fol­gende Ele­mente: ein Verkäufer, ein Käufer, eine Ware, ein Preis und Geld, sowie möglicher­weise eine Rech­nung und eine Quit­tung. Außer­dem gehört zu diesem Frame das Wis­sen darüber, in welch­er Beziehung diese Frame-Ele­mente ste­hen: der Verkäufer besitzt die Ware, er möchte sie gegen Geld abgeben, er legt einen Preis fest, der Käufer gibt dem Verkäufer eine entsprechende Summe, woraufhin die Ware in seinen Besitz überge­ht, usw.

Die Frame-Seman­tik ist also zunächst eine all­ge­meine The­o­rie sprach­lich­er Bedeu­tung ohne beson­deren Bezug zu öffentlichem Diskurs oder poli­tis­ch­er Sprache.

Lakoff weist aber darauf hin, dass der öffentliche Diskurs auf ein­er Vorauswahl von Frames beruht, ein­er Art von gemein­samem Weltwissen über die gesellschaftliche Wirk­lichkeit. Da der öffentliche Diskurs in Form von Worthäp­pchen geführt wird und für Argu­mente kein Platz ist, kön­nen nur die Aus­sagen ihre Wirkung ent­fal­ten, die in diese vorgegebe­nen Frames passen.

Es ist also schw­er, vielle­icht sog­ar unmöglich, außer­halb dieser Frames zu argu­men­tieren. Die Frames wer­den außer­dem in den Köpfen der Diskursteil­nehmer jedes­mal ver­stärkt, wenn Bezug darauf genom­men wird — selb­st dann, wenn der Frame verneint wird. Wenn ich beispiel­sweise darüber rede, dass man „Liebe (oder Glück, oder was auch immer) nicht kaufen kann“, dann wird der Frame KOMMERZIELLE TRANSAKTION eben­so aktiviert, wie bei ein­er pos­i­tiv­en Ver­wen­dung des Wortes kaufen.

Lakoff illus­tri­ert die Wirkung von Frames im öffentlichen Diskurs oft an einem Beispiel, das sich frei auch aufs Deutsche über­tra­gen lässt: dem Begriff tax relief — also Steuer­erle­ichterung oder Steuer­ent­las­tung.

Die Wörter Erle­ichterung und Ent­las­tung rufen einen bes­timmten Frame auf, in dem jemand eine schwere Last trägt, die ihm dann von jemand anderem abgenom­men wird. Dieser Frame ist eine spezielle Vari­ante eines all­ge­meineren Frames, in dem ein Held ein schuld­los in Bedräng­nis ger­atenes Opfer ret­tet.1

Die Wörter Steuer­erle­ichterung und Steuer­ent­las­tung erhal­ten ihre Bedeu­tung durch diesen Frame. Die Steuern spie­len die Rolle der Last, mit der der Bürg­er sich abmühen muss. Tat­säch­lich sprechen wir ja auch von ein­er Steuer­last. Der Poli­tik­er, der ihm diese Last abn­immt, ist der strahlende Retter.

Dieser Frame erscheint uns so selb­stver­ständlich, dass wir gar nicht weit­er darüber nach­denken. Geld kann man ja nie genug haben und wenn es mal wieder nicht reicht, und wir auf dem Gehalt­sauzug dann den Betrag sehen, den der Arbeit­ge­ber an den Staat über­wiesen hat, obwohl wir ihn doch ver­di­ent haben, dann kommt das Bild mit der Steuer­last uns ganz natür­lich vor. Es ist aber nicht die einzige Art, über Steuern nachzu­denken. Wir kom­men darauf gle­ich zurück.

Wie eben beschrieben, wer­den Frames auch durch ihre Vernei­n­ung aufgerufen und ver­stärkt. Stellen wir uns einen Poli­tik­er vor, dessen Partei keine Steuersenkun­gen vornehmen will, da im Parteipro­gramm eine Rei­he von guten und sin­nvollen Pro­jek­ten ste­hen, die durch Steuergelder finanziert wer­den sollen. Dieser Poli­tik­er wird nun gefragt: „Warum sind Sie gegen Steuererleichterungen?“

Jed­er Satz, der etwa mit „Ich bin gegen Steuer­erle­ichterun­gen, weil…“ oder „Wir brauchen keine Steuer­erle­ichterun­gen, weil…“ oder „Steuer­erle­ichterun­gen sind derzeit nicht mach­bar, weil…“ anfängt, stärkt nur das Bild eines Bürg­ers, der unter der Steuer­last fast zusammenbricht.

Was soll dieser Poli­tik­er also tun? Nach Lakoff gibt es nur einen Ausweg: er muss ganz andere Frames find­en. Frames, in denen die Steuer von vorne­here­in nicht als Last dargestellt wird. Lakoff schlägt mehrere sochler Frames vor: Steuern als Investi­tio­nen, beispiel­sweise, Steuern als patri­o­tis­che Geste und Steuern als Mitgliedsbeitrag.

Nehmen wir den let­zten Vorschlag: Wir leben in ein­er mod­er­nen Gesellschaft mit vie­len Annehm­lichkeit­en: freien Wahlen, unab­hängi­gen Fernsehsendern, einem frei zugänglichen Bil­dungssys­tem, öffentlichen Parks und Auto­bah­nen, ein­er Armee, die uns im Ern­st­fall vor Fein­den schützt, ein­er Polizei, die zwar derzeit in unsere Com­put­er ein­drin­gen möchte, die aber auch Mörder und Park­sün­der im Zaum hält, um nur einige zu nen­nen. Jed­er Vere­in, der seinen Mit­gliedern auch nur einen Bruchteil dieser Infra­struk­tur zur Ver­fü­gung stellen kön­nte, würde saftige Mit­glieds­beiträge ver­lan­gen und keins der Mit­glieder käme auf die Idee, von ein­er „Beitragslast“ zu sprechen.

Der Poli­tik­er, der sich mit der Frage nach sein­er Weigerung kon­fron­tiert sähe, „Steuer­erle­ichterun­gen“ vorzunehmen, sollte den Begriff also gar nicht erst auf­greifen, son­dern stattdessen beispiel­sweise davon sprechen, dass der Beitrag für die Mit­glied­schaft in ein­er freien und wohlhaben­den Gesellschaft nicht gesenkt wer­den könne, ohne die Ange­bote dieser Gesellschaft an ihre Bürg­er einzuschränken.

Das Prob­lem an solchen Vorschlä­gen ist natür­lich — und Lakoff gibt das auch zu — dass die ange­sproch­enen Frames neu und unge­wohnt sind und mit über die Jahre eingeschlif­f­e­nen Frames wie dem von der Steuer­last nur schw­er mithal­ten kön­nen. Denn Frames beziehen ihre Wirkung ger­ade daraus, dass man sie nicht erk­lären muss, son­dern dass sie direkt und unmit­tel­bar wirken. Wenn der entsprechende Frame im öffentlichen Diskurs und in den Köpfen der Men­schen nicht bere­its fest ver­ankert ist, dann wirken alle Aus­sagen, die sich auf diesen unge­wohn­ten Frame beziehen, absurd und unverständlich.

Für Lakoff ist die Kon­se­quenz aus dieser Erken­nt­nis, dass neue Wege im poli­tis­chen Han­deln davon abhängig sind, dass zunächst die Frames, auf denen der öffentliche Diskurs beruht, grund­sät­zlich neu definiert wer­den (er nen­nt das „strate­gis­ches Refram­ing“). Das ist natür­lich ein lang­wieriger Prozess, aber er ist notwendig, um echte Verän­derun­gen zu ermöglichen.

Damit dieser Beitrag nicht in der The­o­rie steck­en bleibt, sehen wir uns doch zum Abschluss an, wie es die deutschen Parteien mit dem Frame STEUERN ALS LAST hal­ten. Um einen Überblick zu bekom­men, habe ich auf den Web­seit­en aller im Bun­destag vertete­nen Parteien nach den Wörtern Steuererleichterung/en, Steuer­last und Steuerentlastung/en gesucht. Die Anzahl der Tre­f­fer habe ich dann in Bezug zur Anzahl der Tre­f­fer für das Wort Steuer/n an sich geset­zt. Das Ergeb­nis ist inter­es­sant, wenn auch nicht ganz unerwartet:

Häufigkeit der Verwendung des Frames <em>Steuerlast</em> von den im Bundestag vertretenen Parteien

Häu­figkeit der Ver­wen­dung des Frames Steuer­last von Parteien des Bundestags

Hier scheinen zwei Kräfte am Werk zu sein: erstens wer­den die Steuern umso eher als Last dargestellt, je weit­er man sich im poli­tis­chen Spek­trum nach rechts bewegt. Zweit­ens kön­nte der Grad des Pop­ulis­mus, den eine Partei betreibt, eine Rolle spie­len. Das würde erk­lären, warum die PDS so weit in die Mitte des Feldes gerückt ist.

Hier wäre natür­lich eine genauere Analyse der tat­säch­lichen Ver­wen­dungn nötig. Man bekommt aber auch so den Ein­druck, dass Poli­tik­er (und ihre Berater) Frames wie den von der Steuer­last tat­säch­lich nicht zufäl­lig verwenden.

1 Im Englis­chen kann relief auch so etwas wie „Lin­derung“ bedeuten. Lakoff geht deshalb davon aus, dass tax relief Steuern als eine Art Schmerzen oder Krankheit darstellt — seine Analyse find­et sich hier.

Lit­er­atur

LAKOFF, George (2006). Sim­ple Fram­ing. Berke­ley: The Rock­ridge Insti­tute. [HTML]

ROCKRIDGE INSTITUTE, The (2005). Pro­gres­sive Frames for Tax­es. Berke­ley: The Rock­ridge Insti­tute. [HTML]

ROCKRIDGE INSTITUTE, The (2006). The Strate­gic Fram­ing Overview. Berke­ley: The Rock­ridge Insti­tute. [HTML]

Dieser Beitrag wurde unter Bremer Sprachblog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

6 Gedanken zu „Rahmen sprengen

  1. Renate C.

    Also, daß jed­er ständig die Wikipedia ziti­er — schreck­lich. Vor allem, wenn es um Wis­senschaft geht. Da würde ich von Ihnen als Wis­senschafler solid­ere Quel­lenar­beit erwarten.

  2. dirk.schroeder

    Wenn man Wikipedia zitiert mit der Bemerkung, dort werde tre­f­fend zusam­menge­fasst, dann scheint mir die Absicht des Zitats deut­lich genug — zumin­d­est geht es nicht darum, Infor­ma­tio­nen ungeprüft zu übernehmen und darauf aufzubauen. So kann man auch die Bildzeitung zitieren.

    Umgekehrt sehe ich Anti-Wikipedia-State­ments man­gel­nder Ver­lässlichkeit für wis­senschaftliche Ansprüche allmäh­lich als Ressen­ti­ment. Dass jed­er sich Wikipedia zurechtschreiben kann, stimmt, aber es find­et zu den Artikeln eine nachvol­lziehbare Qual­itäts­diskus­sion statt, d.h. wie unzu­ver­läs­sig ein einzel­ner Ein­trag ist, lässt sich durch Klick auf die Diskus­sion­s­seite nach­schla­gen. Zudem nen­nt Wikipedia Quellen und gibt Ver­weise zur weit­eren Ver­tiefung. Dies leis­ten die Enzyk­lopä­di­en, die ich im Regal habe, selten.

    Weit davon ent­fer­nt, zu glauben, was ich bei Wikipedia finde (z.B. Burschen­schaften, denke ich, kom­men arg gut weg), scheint sie mir einem aufk­lärerischen Anspruch mehr zu genü­gen, als die kom­merzielle Ware, mit vielle­icht ser­iös, aber undoku­men­tiert geprüften Angaben (“eine kleine Umfrage in der Redak­tion”). Und: spürt man einzel­nen Beiträ­gen durch die ver­schiede­nen Aus­gaben etwa des Brock­haus nach (was ich zum The­ma Lyrik mit den Aus­gaben 1928–2005 tat), merkt man gle­ich, wie auch diese a) dem Zeit­geist fol­gen, b) einem wis­senschaftlichen Anspruch kaum genügen.

    Wichtiger wäre die Frage, ob Pub­likums-Lexi­ka über­haupt Quelle der Wis­senschaften sein kön­nen — was ich gerne nach Ver­wen­dungszweck (s.o.) entsch­ieden wüsste. Ihr Auf­trag ist es jeden­falls nicht. “Wikipedia in den Wis­senschaften” wird oft nach (zeit- und orts­be­d­ingten) akademis­chen Stan­dards und eben nicht nach wis­senschaftlichen hin­ter­fragt. So wirkt die Debat­te auf mich manch­mal etwas wirr.

  3. indy

    Es gibt eine Vielzahl an sehr guten Beiträ­gen in der Wikipedia. Zum Beispiel ver­linkt das Por­tal von Clio-Online (http://www.erster-weltkrieg.clio-online.de/) den Artikel über den Ersten Weltkrieg, da dieser qual­i­ta­tiv und quan­ti­ta­tiv sehr gut ist. Trotz­dem würde mir jed­er Dozent meine Hausar­beit wiedergeben, wenn ich zu diesem The­ma aus der Wikipedia zitiere, obwohl dieser Ein­trag sehr viel bess­er ist als die halbe Seite im Brock­haus. Aber aus let­zterem darf man zitieren.

    Hier­bei kann ich Dirk Schroed­er nur zus­tim­men und darauf hof­fen, dass zumin­d­est die Vorurteile in eini­gen Jahren gegen diese Enzyk­lopädie weichen und man die zum Teil vorhan­dene Qual­ität der Texte anerkennt. 

    Mich würde indes inter­essieren, wie es sich bei der englis­chen Ver­sion ver­hält, da diese ja weitaus mehr Beiträge hat und von der Qual­ität her dem deutschen Pen­dant sehr weit voraus ist.

  4. colorcraze

    Ah so, “Fram­ing” nen­nt man das also auch. Bish­er kan­nte ich das nur als den “poli­tis­chen Kampf um Worte”, und die Poli­tolo­gen haben dem WIMRE schon eigene Namen gegeben, etwa “Deu­tung­shoheit” und andere. — Richtig ist jeden­falls die Darstel­lung der Trägheit (das, was hier “Refram­ing” genan­nt wird), wenn man solche aufge­lade­nen Worte ablösen will. Über die Notwendigkeit von Trägheit — eben: Ver­weilen — für die Her­stel­lung von Diskursen und Gedanken kön­nt man auch mal einen Essay schreiben..

    Zu Wikipedia: die hat sich sehr verbessert, habe dort jet­zt schon so einige gute Artikel gele­sen. Allerd­ings frage ich mich, wenn man zu einem Artikel einen Link set­zt, kann man dort ja irgend­wann was ganz anderes vorfind­en: kann man da auch “einge­frorene” Artikel verlinken?

  5. kreetrapper

    kann man da auch “einge­frorene” Artikel verlinken?

    Klar. Ein­fach im Artikel auf den Reit­er “Versionen/Autoren” klick­en und schon wird eine Liste aller bish­eri­gen Ver­sio­nen des Artikels mit Links dazu angezeigt. Die ger­ade aktuelle Ver­sion ist der ober­ste Link.

Kommentare sind geschlossen.