Vor ein paar Wochen haben die Oberösterreichischen Nachrichten über einen Grazer Künstler, Folke Tegetthoff, berichtet, der in einer „visualisierten Klangwolke“ erzählt, „wie das Dorf zur Welt und die Welt zum Dorf wurde“. Davon kann man halten, was man will. Interessant ist aber diese Diskussion um den Titel der Installation, Six Tales of Time:
„Warum verwenden Sie als deutschsprachiger Erzähler einen englischen Titel?“, fragten die OÖN. [Tegetthoff antwortet:] „An sich bin ich gegen Anglizismen und gegen die Verhunzung unserer sehr schönen, poetischen Sprache, aber ‚Sechs Geschichten über die Zeit‘ klingt technischer und holpriger.“
Menschen, die über die „Verhunzung“ der deutschen Sprache durch englische Lehnwörter lamentieren, finde ich noch langweiliger als Menschen, die visualisierte Klangwolken basteln. Aber solange sie das praktizieren, was sie predigen, lasse ich es im Allgemeinen dabei bewenden. Aber Menschen, die über die „Verhunzung“ der deutschen Sprache durch englische Lehnwörter lamentieren, sich selbst dann aber bei der erstbesten Gelegenheit mit fadenscheinigen Ausreden eine Ausnahmegenehmigung von ihrer verqueren Ideologie erteilen, dürfen nicht ungeschoren davonkommen (gute Laune hin oder her).
Eigentlich schade, denn von der Sache her hat Tegetthoff nicht ganz Unrecht. „Technischer“ oder „holpriger“ klingt Sechs Geschichten über die Zeit für meine Ohren zwar nicht — Im Gegenteil, für mich hat das eine recht ansprechde Schlichtheit. Trotzdem glaube ich zu verstehen, was den Künstler an der vorgeschlagenen Übersetzung stört.
Zum einen ist da die grammatische Form. Das Englische verwendet häufig die Konstruktion [X of Y] wo das deutsche ein zusammengesetztes Substantiv bevorzugt. Eine gute deutsche Übersetzung von Six Tales of Time wäre deshalb „Sechs Zeitgeschichten“ — das wäre außerdem eine nette Anspielung auf das Wort Zeitgeschichte im Sinne von „Geschichte der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit“ (Wahrig).
Zum anderen ist da aber das Wort Geschichte. Die Wörter einer Sprache haben selten genaue Entsprechungen in einer anderen Sprache. Stattdessen stehen jedem Wort der einen Sprache meistens mehrere alternative Wörter der anderen Sprache gegenüber. So ist es natürlich auch bei tales.
Um einen ungefähren Eindruck davon zu bekommen, wie sich das Wort zu seinen möglichen deutschen Übersetzungen verhält, habe ich es in einem englisch-deutschen Wörterbuch gesucht, die angebotenen Übersetzungen umgekehrt in einem deutsch-englischen Wörterbuch nachgeschlagen, die dann wiederum im englisch-deutschen, bis ich keine neuen Übersetzungsvorschläge mehr gefunden habe. Dabei kam am Ende folgendes kleines Netzwerk von Übersetzungsmöglichkeiten heraus (wobei ich zusammengesetzte Wörter wie fairy tale oder Kurzgeschichte weggelassen habe):
Die Wörter sind nicht alle gleich — history wird nur noch selten im Sinne einer erzählten Geschichte verwendet (z.B. in The Secret History, Donna Tartt) und Erzählung ist fast schon ein Fachbegriff, den man in der Alltagssprache kaum verwenden würde.
Dieses Netzwerk zeigt sehr schön, dass Wörter nur in Ausnahmefällen eine eindeutige Übersetzung haben: Legende wird nur mit legend übersetzt und history nur mit Geschichte. Aber schon die jeweils umgekehrte Übersetzungsrichtung lässt mehr als eine Möglichkeit zu. Die deutschen Wörter haben durchschnittlich zwei Übersetzungen, die Englischen sogar 2,5. Sieger im Wettbewerb um die meisten Übersetzungsmöglichkeiten ist ausgerechnet tale, dicht gefolgt von Geschichte.
Es ist aber wohl nicht diese Vielfalt an Übersetzungsmöglichkeiten an sich, die Tegetthoff eine Übersetzung seines englischen Titels unmöglich erscheinen lässt. Im Gegenteil: die Vielfalt sollte es doch eigentlich leichter machen. Wenn „Geschichten über die Zeit“ zu technisch klingt, wie wäre es mit „Sagen von der Zeit“? Wenn das zu mythisch klingt, wie wäre es mit „Märchen von der Zeit“? Wenn das zu sehr nach bösen Wölfen und Stiefmüttern klingt, dann — ja, dann bleibt eben doch wieder nur „Geschichten“. Das Problem ist dabei, dass tale nicht „Sage“ oder „Märchen“ oder „Erzählung“ oder „Geschichte“ bedeutet. Denn das sind ja deutsche Wörter, die für die Bedeutung eines englischen Wortes keine Rolle spielen. Nein, tale bedeutet gleichzeitig „Sage“ und „Märchen“ und „Erzählung“ und „Geschichte“. Die Bedeutung des Wortes tale umfasst also mit einem Streich alles von faktisch-nüchternen Erzählungen über Geschichten und märchenhafte Fantasien bis zu sagenhaften Heldengeschichten aus fernen Zeiten.
In dem Augenblick, in dem Tegetthoff sich den Titel „Six Tales of Time“ in den Kopf gesetzt hatte, gab es keine Möglichkeit mehr, einen deutschen Titel mit den gleichen Bedeutungsschattierungen zu finden.
Da Tegetthoff als Künstler natürlich künstlerische Freiheit genießt, kann ihn ja auch keiner zu einer Eindeutschung zwingen. Was aber machen Übersetzer, die diese Freiheit im Allgemeinen nicht haben? Wenn sie ein Werk übersetzen, dass „A Tale of …“ heißt, wird ihnen der Verleger nur in den seltensten Fällen die Behauptung abkaufen, dass sich dieser Titel nun einmal nicht übersetzen lasse. Und tatsächlich werden solche Titel meistens übersetzt.
Dabei gibt es zunächst eine Mehrzahl von Übersetzern, die offensichtlich kein Problem mit der angeblichen technischen Holprigkeit des Wortes Geschichte haben:
- Tales of the City (Armistead Maupin) — dt. Stadtgeschichten
- The Tale of Peter Rabbit (Beatrix Potter) — dt. Die Geschichte von Peter Hase
- Lost Tales of Middle-Earth (J.R.R. Tolkien) — dt. Das Buch der verlorenen Geschichten
- The Tale of Genhji (Murasaki, orig.: 源氏物語) — dt. Die Geschichte vom Prinzen Genji (natürlich keine Übersetzung aus dem Englischen, aber ein Fall, in dem dem englischen Übersetzer das Wort tale angemessen schien, während der deutsche sich mit Geschichte begnügt hat).
Auch andere Übersetzungsmöglichkeiten werden manchmal gewählt:
- The Winter’s Tale (William Shakespeare) — dt. Das Wintermärchen
- The Canterbury Tales (Geoffrey Chaucer) — dt. Die Canterbury-Erzählungen
- The Handmaid’s Tale (Margaret Atwood) — dt. Der Report der Magd
Im Großen und Ganzen klingen die übersetzten Titel für meine Ohren glatt und stimmig, auch wenn sie natürlich das Original nicht hundertprozentig wiedergeben. Nehmen wir Maupins Tales of the City. Das sind ja alles relativ triviale Alltagsbeschreibungen vom Leben und Lieben in der Großstadt, vergleichbar mit Fernsehserien wie Melrose Place oder Sex and the City. Das Wort stories würde das eigentlich recht gut treffen. Aber indem Maupin sie stattdessen tales nennt, stellt er diese Alltagsbeschreibungen ein wenig als moderne Sagen dar. Dieser Aspekt geht bei der deutschen Übersetzung verloren. Was die Übersetzerin von The Handmaid’s Tale geritten hat, erschließt sich mir nicht. Bei dieser Übersetzung kann man wirklich von „technisch“ und „holprig“ sprechen — und das ganz ohne Not: die Verfilmung des Romans bekam im Deutschen den schönen und treffenden Titel „Die Geschichte der Dienerin“.
Manchmal vermeiden es die Übersetzer es, eine deutsche Entsprechung für das Wort tale(s) zu finden, in dem sie nur einen Teil des Titels übersetzen oder das Werk völlig neu betiteln:
- A Tale of the Ragged Mountains (Edgar Allan Poe) — dt. In den Bergen
- A Tale of Two Cities (Charles Dickens) — dt. Zwei Städte
- Tales of Power (Carlos Castaneda) — dt. Der Ring der Kraft
Oder sie übernehmen (ähnlich wie Tegethoff) gleich den englischen Titel (zumindest bei Filmen und Computerspielen):
- A Tale of Two Sisters (original: 장화, 홍련) — dt. A Tale of Two Sisters
- Tales of Eternia (Ubisoft) — dt. Tales of Eternia
Eigentlich könnte man auch hier fast überall die Übersetzungsmöglichkeit Geschichte wählen, außer vielleicht bei Tales of Power und bei Tales of Eternia, bei denen wieder das sagenhafte mitschwingt.
Wenn Tegetthoff also der Meinung ist, dass das Wort tales mit seiner semantischen Spannbreite von „Legende“ bis „Geschichte“ seiner Installation am besten gerecht wird, dann soll er es verwenden. Eine deutsche Übersetzung, die die selben semantischen Schattierungen vermittelt, gibt es nicht. Aber er sollte dann auch nicht von „Sprachverhunzung“ sprechen, sondern verstehen, dass andere Sprecher des Deutschen genau die gleiche Motivation für die Verwendung von Lehnwörtern haben, wie er selbst — sie sind der Meinung, dass diese Lehnwörter treffender sind, als ihre deutschen Übersetzungen.
[Nachtrag (2007–07-27, 17:23): Es ist immer eine große Ehre, wenn Languagehat einen Beitrag aus dem Bremer Sprachblog aufgreift. So auch diesmal. Ein gewisser „phil“ folgte dem Link hierher und fragte sich dann, warum das Wort saga in unserer semantischen Karte nicht auftaucht. Das ist eine berechtigte Frage; ich habe deshalb die Übung mit einem größerern Wörterbuch wiederholt, das Ergebnis findet sich hier.]
Ein Wort wird aber doch selten mit all seinen Bedeutungsnuancen entlehnt. (Ich wage sogar zu behaupten, dass das nie der Fall ist, da ich es dann Fremdwort nennen würde.) Es bezeichnet stattdessen einen Spezialfall des generelleren heimischen Begriffes bzw. etwas gänzlich neues oder aber, was seltener ist, es fasst mehrere bestehende Begriffe zu einer bislang unbenannten Kategorie zusammen. Daneben gibt es natürlich auch rein ersetzende Lehnwörter – ich habe bspw. nie verstanden, warum sich Cousin durchsetzen konnte.
Aber lassen wir die Lehnwortproblematik mal beiseite und zur Benennung: Ich traue nur in Trivial- und Ausnahmefällen jemandem zu, bewusst eine wirklich passende Bezeichnung außerhalb seiner Muttersprache zu finden. Genauso ist eine originalgetreue Übersetzung ein Ding der Unmöglichkeit, schließlich ist – mit Humboldt – jede Sprache eine andere Sicht auf die Welt.
Eine kleine Anmerkung zu Tales of Eternia: Genaugenommen wurde dort der japanische Titel des Spiels ohne Übersetzung übernommen. Vermutlich ist das gar nicht mal so eine schlechte Idee, denn Tales of * ist eine Spielereihe (die sich ähnlich wie Final Fantasy dadurch auszeichnet, dass die einzelnen Teile inhaltlich nicht zusammenhängen) und bei einer Übersetzung des Titel würde ich in der Spieleindustrie davon ausgehen, dass die Titelgleichheit irgendwann unnötig unterbrochen wird.