Telefonischer Sprachverfall

Von Anatol Stefanowitsch

Vor ein paar Wochen ist die Geschichte schon durch die irische Presse gegan­gen, jet­zt hat der Süd­kuri­er sie aufge­grif­f­en: die schulis­chen Leis­tun­gen der irischen Jugend lei­den unter dem Ein­fluss mod­ern­er Kom­mu­nika­tion­stech­niken. Zumin­d­est behauptet das ein Bericht, den das irische Bil­dungsmin­is­teri­um in Auf­trag gegeben hat:

Das Schreiben von SMS, bei dem auf Rechtschrei­bung und Satzze­ichen wenig Wert gelegt wird, scheint eine Gefahr für die tra­di­tionellen Sprachkon­ven­tio­nen zu sein“, heißt es in dem Bericht.

Da haben sich die Ver­fass­er des Berichts wohl eher von Vorurteilen gegen eine ver­meintlich kom­mu­nika­tion­s­gestörte Jugend leit­en lassen als von einem echt­en Ver­ständ­nis über den Zusam­men­hang von Medi­um und Botschaft. Schließlich haben die schrift­sprach­lichen Leis­tun­gen früher­er Gen­er­a­tio­nen nicht unter der Erfind­ung des Morseal­pha­bets gelit­ten (··· ·· · / ···· ·¬ ¬··· · ¬· / ¬· ·· · / ··· ¬¬¬ / ¬¬· · ··· ¬·¬· ···· ·¬· ·· · ¬··· · ¬·) und auch die Erfind­ung des Telegramms hat keine bleiben­den Spuren hin­ter­lassen (BESINNUNGSAUFSATZ NICHT IN GEFAHR STOP).

Die British Library ist neuen Kom­mu­nika­tions­for­men gegenüber offen­sichtlich aufgeschlossen­er. Im let­zten Jahr rief man die Bevölkerung dazu auf, den 17. Okto­ber in einem eigens geschaf­fe­nen Blog zu doku­men­tieren. Nun bit­tet die British Library die Briten, je eine Email aus ihrem Post­fach an die Bib­lio­thek weit­erzuleit­en. Die sollen dann archiviert wer­den und zukün­fti­gen Gen­er­a­tio­nen von His­torik­ern die Möglichkeit geben, das Leben im frühen 21. Jahrhun­dert bess­er zu ver­ste­hen:

The British Library plays home to such works as the Magna Car­ta, the let­ters of Jane Austen, and William Shakespeare’s first work — a col­lec­tion that will now be enriched by intra-office e‑spats and mass adver­tise­ments for Viagra.

Die British Library behei­matet Werke wie die Magna Car­ta, die Briefe von Jane Austen und William Shake­spear­es erstes Stück — eine Samm­lung, die jet­zt durch elek­tro­n­is­chen Büroknatsch und Massen­wer­bung für Via­gra bere­ichert wird.

Da ist es doch nur noch ein klein­er Schritt zu einem Doku­men­ta­tion­spro­jekt für SMS-Botschaften. Und dann kön­nte die Nach­welt entschei­den, was roman­tis­ch­er ist: „ILIDIUVEMIDI“ oder „O Romeo! Warum denn Romeo? / Ver­leugne deinen Vater, deinen Namen! / Willst du das nicht, schwör dich zu meinem Lieb­sten, / Und ich bin länger keine Capulet!“

[Nach­trag: Bei Fre­un­den des Morseal­pha­bets entschuldige ich mich für die ungewöhn­liche Darstel­lung von Punk­ten und Strichen. Die üblichen . und — wer­den von Word­Press sehr eigen­willig inter­pretiert, wenn zwei davon nebeneinan­der stehen.]

5 Gedanken zu „Telefonischer Sprachverfall

  1. buntklicker.de

    Die Ein­las­sung zum Morseal­pha­bet kann ich nicht nachvol­lziehen. Natür­lich hat das Morseal­pha­bet die Sprachkom­pe­tenz der dama­li­gen Jugend nicht unter­graben, weil diese bei­den Wel­ten nicht (bzw. kaum) miteinan­der in Berührung kamen. Heute ist das anders: Prak­tisch jed­er junge Men­sch hierzu­lande hat ein Mobil­tele­phon und benutzt es auch zum SMSen. Der Ein­fluß ist deut­lich größer. Logischerweise.

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  2. Alex

    Ich muß mich bun­tk­lick­er anschließen. Die SMS mit dem Morsec­ode und dem Telegramm zu ver­gle­ichen ist ein wenig zu ein­fach. Wie sel­ten hat denn der Durch­schnitts­bürg­er, selb­st zu den Hochzeit­en des Mors­ens oder des Telegrafierens, selb­st diese Tech­niken ver­wen­det? Die SMS ist hinge­gen in der heuti­gen Welt all­ge­gen­wär­tig und hat eine viel höhere gesellschaftliche Durch­dringung als die anderen bei­den Kom­mu­nika­tion­stech­niken. Und daher ist es wahrschein­lich, daß auch ihr Ein­fluß auf die Sprache deut­lich größer ist. 

    Dazu fällt mir noch der Kom­mu­nika­tion­skanal Chat/IM ein, der ja eben­falls durch Kürze und unge­naue Rechtschrei­bung geprägt ist, wenn auch aus anderen Grün­den als die SMS (Zeit- statt Platz­man­gel). Und auch hier ist der Ein­fluß auf die All­t­agssprache wohl größer als beim Telegramm. Ich kenne z.B. jeman­den, der tat­säch­lich “lol” sagt, auch in ganz nor­malen Unterhaltungen.

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  3. Frank Oswalt

    Sollte das mit dem Morseal­pha­bet wirk­lich so ernst gemeint gewe­sen sein, wie Bun­tk­lick­er und Alex anscheinend annehmen? Anders als die „SMS-Sprache“ ist das ja nur eine alter­na­tive Schreib­weise für die Buch­staben des Alpha­bets. Beim Telegramm wäre ein Stile­in­fluss wohl eher zu erwarten, und da hat die Aus­sage mit Medi­um und Botschaft doch trotz der unter­schiedlichen Ver­bre­itung von Telegramm­stil und SMS-Sprache ihre Berech­ti­gung: die „heutige Jugend“ hat ja ver­mut­lich dieselbe Fähigkeit, zwis­chen Schu­lauf­satz und informeller Kom­mu­nika­tion zu unter­schei­den, wie jede Gen­er­a­tion vor ihnen. Mein elfjähriger Sohn und seine Fre­unde kom­men jeden­falls nicht auf die Idee, ihre Schu­lauf­sätze mit Kürzeln wie CU oder J4F zu schmück­en und sie ver­wen­den auch keine SMS-Abkürzun­gen, wenn sie sich unterhalten…

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  4. NvonX

    IMHO — Ich glaube nicht, dass Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gien über­haupt irgen­deinen nen­nenswerten oder gar nach­haltig neg­a­tiv­en Ein­fluss auf die Sprache haben kön­nen — dazu schre­it­en diese ein­fach viel zu rasch voran. Bun­tk­lick­er und Alex haben ja schon ganz richtig bemerkt, dass der Morsec­ode und Telegramme das nicht getan haben und wed­er Stenografie noch Palm’s® Graf­fi­ti® haben bish­er dazu geführt, dass die Men­schheit das Schreiben ver­lernt hat. Ich denke, auch die „Short Mes­sage” (SMS) wird das nicht schaf­fen; immer­hin hil­ft T9 einem mit­tler­weile dabei, Kurzmit­teilun­gen zeits­parend auch in ganzen Sätzen mit voll aus­geschriebe­nen Wörtern zu ver­fassen. Und wer weiß, ob sich in 10 Jahren über­haupt noch jemand an das lästige Zusam­men­tip­pen von meist über­flüs­si­gen Tex­ten auf einem dutzend unkom­fort­a­bel klein­er Tas­ten erin­nern kann. Was den neg­a­tiv­en Ein­fluss mod­ern­er Kom­mu­nika­tion­stech­niken auf unsere Jugend bet­rifft, so kann ich mir gut vorstellen, dass es weniger das Ver­fassen von Kurz­nachricht­en als vielmehr das ständi­ge Rum­fum­meln mit dem Mobil­tele­fon an sich ist, was die Adoleszen­ten vom Ler­nen abhält. Ich denke, ein ein­fach­es Handyver­bot im Unter­richt kön­nte hier schon Wun­der wirken.

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  5. Anatol Stefanowitsch

    Damit eine Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gie einen Ein­fluss auf die Sprache im All­ge­meinen haben kann, muss sie natür­lich erstens, wie NvonX beobachtet, lange genug existieren und zweit­ens, wie Bun­tk­lick­er und Alex anmerken, weit ver­bre­it­et sein. Die einzige Tech­nolo­gie, die meines Wis­sens diese Bedin­gun­gen erfüllt, ist das Schreiben an sich. Wed­er Morsec­ode (der natür­lich eine reduc­tio ad absur­dum sein sollte) noch Telegramm, wed­er SMS noch Chat kön­nen die Sprache verän­dern (das Beispiel von *lol* in der gesproch­enen Sprache ist hier zwar inter­es­sant aber kein Gege­nar­gu­ment: immer wieder wer­den vere­inzelte Abkürzun­gen aus der Schrift­sprache in die gesproch­ene Sprache über­nom­men ohne dass sich dadurch tief­greifend etwas an der Sprache ändern würde).

    Allerd­ings bee­in­flusst jede Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gie die Ver­wen­dung der Sprache in dem Sinne, dass eine Art „Dialekt“ entste­ht (oder kün­stlich geschaf­fen wird), der dieser Tech­nolo­gie angepasst ist. Das kann das Weglassen von Funk­tion­swörtern sein, die bei Telegram­men den Preis unnötig in die Höhe treiben wür­den, oder die Ver­wen­dung von bes­timmten Abkürzun­gen, die bei SMS und Chat die Zeit reduzieren, die zum Tip­pen benötigt wird. Der rel­a­tiv laxe Umgang mit Zeichenset­zung und Rechtschrei­bung, der sich bei SMS und Chats beobacht­en lässt, dürfte eben­falls damit zusam­men­hän­gen und kön­nte außer­dem etwas mit ein­er Konzen­tra­tion auf Inhalte statt auf die äußere Form zu tun haben.

    Hinzu kommt außer­dem sich­er, dass die jun­gen Men­schen, um die es in dem Bericht ging, die Regeln der Schrift­sprache nur unzure­ichend beherrschen. Anders als die Struk­turen und das Vok­ab­u­lar unser­er Sprache erler­nen wir Inter­punk­tion, Orthografie und klare Textstruk­turen nicht spie­lend und unbe­wusst. Stattdessen muss man sie uns müh­sam beib­rin­gen. Das ist eine der Haup­tauf­gaben der Schulen. Der Bericht tut nun (wenn man den Presse­bericht­en glauben darf) so, als wür­den die Schulen den Schülern beste schrift­sprach­liche Kom­pe­ten­zen ver­mit­teln, die die Schüler sich dann mit zu viel Sim­sen wieder ver­sauen. Meine Ver­mu­tung ist aber eher, dass die Schulen die Schrift­sprache gar nicht erst aus­re­ichend ver­mit­teln (kön­nen) und dass die SMS hier als Sün­den­bock her­hal­ten müssen damit das Bil­dungsmin­is­teri­um nicht zugeben muss, dass die Schulen hoff­nungs­los unter­fi­nanziert und per­son­ell unterbe­set­zt sind.

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