Obwohl ich mich vorrangig als allgemeinen Sprachwissenschaftler betrachte, ist meine anglistisch-amerikanistische Identität doch stark genug, dass ich mich hin und wieder an Klassikern der amerikanischen Gegenwartsliteratur versuche.
Vor einiger Zeit habe ich es ja mit John Irvings Until I Find You versucht (der liegt derzeit auf Eis, aber ich versuche es nächstes Jahr nochmal). Dieser Tage habe ich mir Don DeLillos Roman Underworld vorgenommen, der seit immerhin zehn Jahren unberührt in meinem Bücherregal steht.
Ich gebe es lieber gleich zu: ich bin schon am Prolog gescheitert. Darin beschreibt DeLillo auf satten sechzig Seiten ein einziges Baseballspiel (wenn auch zugegebenermaßen ein sehr berühmtes. Diese Liebe zum Detail dürfte erklären, warum der Roman es insgesamt auf 827 Seiten bringt. Bei aller Liebe zur Literatur, soweit reicht meine Konzentrationsfähigkeit leider nicht. Aber bis Seite 14 bin ich immerhin gekommen, und da stieß ich auf folgenden Absatz (wobei mich die fett gedruckte Passage interessiert):
When you think about the textured histories of the teams and the faith and the passion of the fans and the way these forces are entwined city-wide, and when you think about the game itself, live-or-die, the third game in a three-game playoff, and you say the names Giants and Dodgers, and you calculate the way the players hate each other openly, and you recall the kind of year this has turned out to be, the pennant race that has brought the city to a strangulated rapture, an end-shudder requiring a German loanword to put across the mingling of pleasure and dread and suspense, and when you think about the blood loyalty, this is what they’re saying in the booth — the love-of-team that runs across the boroughs and through the snuggled suburbs and out into the apple counties and the raw north, then how do you explain twenty thousand empty seats?
Hier meine eigene Übersetzung (mit einer Entschuldigung an Frank Heibert, dessen offizielle Übersetzung mir leider nicht vorliegt):
Wenn man sich die dicht gewobenen Geschichten der Mannschaften vergegenwärtigt, den Glauben und die Leidenschaft der Fans und die Art und Weise, in der diese Kräfte über die ganze Stadt hinweg miteinander verflochten sind, und wenn man sich das Spiel vergegenwärtigt, Alles oder Nichts, das dritte Spiel eines Stichkampfes über drei Runden, und man die Namen Giants und Dodgers ausspricht, und man den offenen Hass berücksichtigt, den die Spieler für einander empfinden, und man sich noch einmal vor Augen führt, wie dieses Jahr sich entwickelt hat, die Meisterschaft die die Stadt in ein ersticktes Entzücken versetzt hat, ein letztes Zittern, das ein deutsches Lehnwort erfordert um die Mischung aus Freude und Furcht und Spannung auszudrücken, und wenn man sich die Blutbande vergegenwärtigt, sagen sie in der Kabine — die Liebe zur Mannschaft die sich durch die Bezirke zieht und durch die dicht aneinandergedrängten Vororte und hinaus in die Obstgärten des Umlands und in den rauen Norden, wie erklärt man dann die zwanzigtausend leeren Plätze?
Welches deutsche Lehnwort im Englischen bezeichnet eine „Mischung aus Freude und Furcht und Spannung“?
Natürlich keins. Um zu verstehen, was uns der Autor hier sagen will, müssen wir uns zunächst einen Mythos über den deutschen Gefühlswortschatz vergegenwärtigen, der in der englischsprachigen Welt weit verbreitet ist: nämlich, dass das Deutsche dahingehend einzigartig ist, dass es ein Wort für eine Mischung aus Freude und Boshaftigkeit besitzt. Das Englische, so der Mythos, hat ein solches Wort nicht, so dass es sich das deutsche Wort ausleihen musste:
schadenfreude
noun [U]
a feeling of pleasure or satisfaction when something bad happens to someone else (Cambridge Advanced Learners Dictionary)
Wie gesagt, es ist ein Mythos, dass das Englische hier kein eigenes Wort hat, aber diesen zu entlarven hebe ich mir für die nächste Woche auf. Uns interessiert hier lediglich, dass DeLillo diesen Mythos offensichlich verallgemeinert hat. Um die oben zitierte Passage zu verstehen, muss man Folgendes glauben:
Für Gefühlszustände, bei denen Freude mit anderen (unpassenden?) Gefühlen vermischt ist, hat das Englische keine Wörter, das Deutsche aber schon.
Also, das stimmt natürlich nicht. Hier ist eine kleine Auswahl von englischen Wörtern, die Freude mit einem anderen Gefühl verbinden (Hinweis für meine Studierenden: das ist eine sehr aus dem Ärmel geschüttelte Analyse. Wer hätte Lust, eine Examensarbeit über das Wortfeld „Freude“ zu schreiben?):
- anticipation (= Freude + Spannung)
- cock-a-hoop (= Freude + Angeberei)
- complacency (= Freude + Selbsttäuschung)
- conviviality (= Freude + Völlerei)
- delight (= Freude + Wunscherfüllung)
- exhilaration (= Freude + Überwältigtsein)
- exultation (= Freude + Triumph)
- hilarity (= Freude + Extrovertiertheit)
- rapture (= Freude + Kontrollverlust)
- relish (= Freude + Genuss)
Es braucht also keine deutschen Lehnwörter, um gemischte Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Was sagt uns das alles? Zunächst einmal ist DeLillos Prosa beeindruckend, und die oben zitierte Passage ist äußerst geistreich. Aber wäre sie nicht noch beeindruckender, wenn die Bildhaftigkeit, aus der sie ihre Kraft bezieht, auf Fakten beruhen würde? Oder bestätige ich mit dieser Frage nur das Klischee vom drögen Wissenschaftler, der keinen Sinn für Poesie hat?
Wie dem auch sei, für heute verabschiede ich mich mit einem Ausschnitt aus einem anderen großen Werk der amerikanischen Literatur.
Lisa: Dad, do you know what “schadenfreude” is?
Homer: No, I do not know what “schadenfreude” is, please tell me because I am dying to know.
Lisa: It’s a German word for shameful joy, taking pleasure in the suffering of others.
Homer: Oh, come on, Lisa. I’m just glad to see him fall flat on his butt! He’s usually all happy and comfortable, and surrounded by loved ones, and it makes me feel… what’s the opposite of that shameful joy thing of yours?
Lisa: Sour grapes.
Homer: Boy, those Germans have a word for everything.
Lisa: Dad, weißt du, was „Schadenfreude“ ist?
Homer: Nein, ich weiß nicht, was „Schadenfreude“ ist. Bitte sag es mir doch, ich muss es unbedingt wissen.
Lisa: Es ist ein deutsches Wort für schändliche Freude, für Vergnügen, dass man aus dem Unglück anderer gewinnt.
Homer: Ach, komm schon, Lisa. Ich freue mich nur, dass er auch mal auf die Nase gefallen ist! Er ist normalerweise immer so glücklich und zufrieden und von liebenden Menschen umgeben, und dadurch fühle ich… was ist das Gegenteil von deinem Schändliche-Freude-Dingbums?
Lisa: Sour grapes.
Homer: Junge, diese Deutschen haben aber auch wirklich für alles ein Wort.
Die Frage nach der Wahrhaftigkeit des Erzählens ist ja eine sehr alt, wird aber meist pragmatisch gelöst: der Gehalt selbst muss in sich stimmig sein (wenn auch Fiktion), der Rest nicht, der Rechercheaufwand wäre gar nicht zu leisten. Je mehr einer schreibt, je mehr enthüllt er notwendig sich selbst und seine Irrtümer. Ich nenne es Mut, vor dieser drohenden Selbstentlarvung nicht zu verstummen. Denn nachher kommen zwar eher selten die Fragen nach dem Zutreffen jedes Satzes, wohl aber die nach der Moral des Autors.
Was heißt “dröge” eigentlich? Das ist Plattdeutsch für “trocken”, oder?
Herr Schröder, Sie haben natürlich Recht mit dem In-sich-Stimmigsein. Allerdings kann ja kein Text wirklich nur „In sich“ gelesen werden, sondern immer nur in Bezug zu anderen Texten. Deutsche Lehnwörter allgemein oder das Wort „Schadenfreude“ konkret tauchen (so vermute ich) in DeLillos Roman an keiner anderen Stelle auf, er verlässt sich also auf das intertextuelle Wissen seiner Leser. Und dabei muss er sich eben auf Wissen verlassen, dass „falsch“ oder zumindest stark verkürzt ist. Das tut der Kraft seiner Prosa eigentlich keinen Abbruch — die zitierte Passage ist fantastisch (ich wünschte wirklich, ich hätte die Geduld, den ganzen Roman zu lesen). Aber irgendwie stört es mich trotzdem…
Herr Marjanović, dröge ist laut dem Wahrig Wörterbuch norddeutsch:
Zumindest in meiner persönlichen Variante des Norddeutschen kann das Wort allerdings nur in seiner übertragenen Bedeutung verwendet werden.