Gemischte Gefühle

Von Anatol Stefanowitsch

Obwohl ich mich vor­rangig als all­ge­meinen Sprach­wis­senschaftler betra­chte, ist meine anglis­tisch-amerikanis­tis­che Iden­tität doch stark genug, dass ich mich hin und wieder an Klas­sik­ern der amerikanis­chen Gegen­wart­slit­er­atur versuche.

Vor einiger Zeit habe ich es ja mit John Irv­ings Until I Find You ver­sucht (der liegt derzeit auf Eis, aber ich ver­suche es näch­stes Jahr nochmal). Dieser Tage habe ich mir Don DeLil­los Roman Under­world vorgenom­men, der seit immer­hin zehn Jahren unberührt in meinem Bücher­re­gal steht.

Ich gebe es lieber gle­ich zu: ich bin schon am Pro­log gescheit­ert. Darin beschreibt DeLil­lo auf sat­ten sechzig Seit­en ein einziges Base­ball­spiel (wenn auch zugegeben­er­maßen ein sehr berühmtes. Diese Liebe zum Detail dürfte erk­lären, warum der Roman es ins­ge­samt auf 827 Seit­en bringt. Bei aller Liebe zur Lit­er­atur, soweit reicht meine Konzen­tra­tions­fähigkeit lei­der nicht. Aber bis Seite 14 bin ich immer­hin gekom­men, und da stieß ich auf fol­gen­den Absatz (wobei mich die fett gedruck­te Pas­sage interessiert):

When you think about the tex­tured his­to­ries of the teams and the faith and the pas­sion of the fans and the way these forces are entwined city-wide, and when you think about the game itself, live-or-die, the third game in a three-game play­off, and you say the names Giants and Dodgers, and you cal­cu­late the way the play­ers hate each oth­er open­ly, and you recall the kind of year this has turned out to be, the pen­nant race that has brought the city to a stran­gu­lat­ed rap­ture, an end-shud­der requir­ing a Ger­man loan­word to put across the min­gling of plea­sure and dread and sus­pense, and when you think about the blood loy­al­ty, this is what they’re say­ing in the booth — the love-of-team that runs across the bor­oughs and through the snug­gled sub­urbs and out into the apple coun­ties and the raw north, then how do you explain twen­ty thou­sand emp­ty seats?

Hier meine eigene Über­set­zung (mit ein­er Entschuldigung an Frank Heib­ert, dessen offizielle Über­set­zung mir lei­der nicht vorliegt):

Wenn man sich die dicht gewobe­nen Geschicht­en der Mannschaften verge­gen­wär­tigt, den Glauben und die Lei­den­schaft der Fans und die Art und Weise, in der diese Kräfte über die ganze Stadt hin­weg miteinan­der ver­flocht­en sind, und wenn man sich das Spiel verge­gen­wär­tigt, Alles oder Nichts, das dritte Spiel eines Stichkampfes über drei Run­den, und man die Namen Giants und Dodgers ausspricht, und man den offe­nen Hass berück­sichtigt, den die Spiel­er für einan­der empfind­en, und man sich noch ein­mal vor Augen führt, wie dieses Jahr sich entwick­elt hat, die Meis­ter­schaft die die Stadt in ein erstick­tes Entzück­en ver­set­zt hat, ein let­ztes Zit­tern, das ein deutsches Lehn­wort erfordert um die Mis­chung aus Freude und Furcht und Span­nung auszu­drück­en, und wenn man sich die Blut­bande verge­gen­wär­tigt, sagen sie in der Kabine — die Liebe zur Mannschaft die sich durch die Bezirke zieht und durch die dicht aneinan­derge­drängten Vororte und hin­aus in die Obst­gärten des Umlands und in den rauen Nor­den, wie erk­lärt man dann die zwanzig­tausend leeren Plätze?

Welch­es deutsche Lehn­wort im Englis­chen beze­ich­net eine „Mis­chung aus Freude und Furcht und Spannung“?

Natür­lich keins. Um zu ver­ste­hen, was uns der Autor hier sagen will, müssen wir uns zunächst einen Mythos über den deutschen Gefühlswortschatz verge­gen­wär­ti­gen, der in der englis­chsprachi­gen Welt weit ver­bre­it­et ist: näm­lich, dass das Deutsche dahinge­hend einzi­gar­tig ist, dass es ein Wort für eine Mis­chung aus Freude und Boshaftigkeit besitzt. Das Englis­che, so der Mythos, hat ein solch­es Wort nicht, so dass es sich das deutsche Wort auslei­hen musste:

schaden­freude

noun [U]

a feel­ing of plea­sure or sat­is­fac­tion when some­thing bad hap­pens to some­one else (Cam­bridge Advanced Learn­ers Dic­tio­nary)

Wie gesagt, es ist ein Mythos, dass das Englis­che hier kein eigenes Wort hat, aber diesen zu ent­lar­ven hebe ich mir für die näch­ste Woche auf. Uns inter­essiert hier lediglich, dass DeLil­lo diesen Mythos offen­sich­lich ver­all­ge­mein­ert hat. Um die oben zitierte Pas­sage zu ver­ste­hen, muss man Fol­gen­des glauben:

Für Gefühlszustände, bei denen Freude mit anderen (unpassenden?) Gefühlen ver­mis­cht ist, hat das Englis­che keine Wörter, das Deutsche aber schon.

Also, das stimmt natür­lich nicht. Hier ist eine kleine Auswahl von englis­chen Wörtern, die Freude mit einem anderen Gefühl verbinden (Hin­weis für meine Studieren­den: das ist eine sehr aus dem Ärmel geschüt­telte Analyse. Wer hätte Lust, eine Exa­m­en­sar­beit über das Wort­feld „Freude“ zu schreiben?):

  • antic­i­pa­tion (= Freude + Spannung)
  • cock-a-hoop (= Freude + Angeberei)
  • com­pla­cen­cy (= Freude + Selbsttäuschung)
  • con­vivi­al­i­ty (= Freude + Völlerei)
  • delight (= Freude + Wunscherfüllung)
  • exhil­a­ra­tion (= Freude + Überwältigtsein)
  • exul­ta­tion (= Freude + Triumph)
  • hilar­i­ty (= Freude + Extrovertiertheit)
  • rap­ture (= Freude + Kontrollverlust)
  • rel­ish (= Freude + Genuss)

Es braucht also keine deutschen Lehn­wörter, um gemis­chte Gefüh­le zum Aus­druck zu bringen.

Was sagt uns das alles? Zunächst ein­mal ist DeLil­los Prosa beein­druck­end, und die oben zitierte Pas­sage ist äußerst geistre­ich. Aber wäre sie nicht noch beein­druck­ender, wenn die Bild­haftigkeit, aus der sie ihre Kraft bezieht, auf Fak­ten beruhen würde? Oder bestätige ich mit dieser Frage nur das Klis­chee vom drö­gen Wis­senschaftler, der keinen Sinn für Poe­sie hat?

Wie dem auch sei, für heute ver­ab­schiede ich mich mit einem Auss­chnitt aus einem anderen großen Werk der amerikanis­chen Lit­er­atur.

Lisa: Dad, do you know what “schaden­freude” is?

Homer: No, I do not know what “schaden­freude” is, please tell me because I am dying to know.

Lisa: It’s a Ger­man word for shame­ful joy, tak­ing plea­sure in the suf­fer­ing of others.

Homer: Oh, come on, Lisa. I’m just glad to see him fall flat on his butt! He’s usu­al­ly all hap­py and com­fort­able, and sur­round­ed by loved ones, and it makes me feel… what’s the oppo­site of that shame­ful joy thing of yours?

Lisa: Sour grapes.

Homer: Boy, those Ger­mans have a word for everything.

Lisa: Dad, weißt du, was „Schaden­freude“ ist?

Homer: Nein, ich weiß nicht, was „Schaden­freude“ ist. Bitte sag es mir doch, ich muss es unbe­d­ingt wissen.

Lisa: Es ist ein deutsches Wort für schändliche Freude, für Vergnü­gen, dass man aus dem Unglück ander­er gewinnt.

Homer: Ach, komm schon, Lisa. Ich freue mich nur, dass er auch mal auf die Nase gefall­en ist! Er ist nor­maler­weise immer so glück­lich und zufrieden und von lieben­den Men­schen umgeben, und dadurch füh­le ich… was ist das Gegen­teil von deinem Schändliche-Freude-Dingbums?

Lisa: Sour grapes.

Homer: Junge, diese Deutschen haben aber auch wirk­lich für alles ein Wort.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

3 Gedanken zu „Gemischte Gefühle

  1. dirk.schroeder

    Die Frage nach der Wahrhaftigkeit des Erzäh­lens ist ja eine sehr alt, wird aber meist prag­ma­tisch gelöst: der Gehalt selb­st muss in sich stim­mig sein (wenn auch Fik­tion), der Rest nicht, der Rechercheaufwand wäre gar nicht zu leis­ten. Je mehr ein­er schreibt, je mehr enthüllt er notwendig sich selb­st und seine Irrtümer. Ich nenne es Mut, vor dieser dro­hen­den Selb­stent­larvung nicht zu ver­s­tum­men. Denn nach­her kom­men zwar eher sel­ten die Fra­gen nach dem Zutr­e­f­fen jedes Satzes, wohl aber die nach der Moral des Autors.

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  2. Anatol Stefanowitsch

    Herr Schröder, Sie haben natür­lich Recht mit dem In-sich-Stim­mig­sein. Allerd­ings kann ja kein Text wirk­lich nur „In sich“ gele­sen wer­den, son­dern immer nur in Bezug zu anderen Tex­ten. Deutsche Lehn­wörter all­ge­mein oder das Wort „Schaden­freude“ konkret tauchen (so ver­mute ich) in DeLil­los Roman an kein­er anderen Stelle auf, er ver­lässt sich also auf das inter­textuelle Wis­sen sein­er Leser. Und dabei muss er sich eben auf Wis­sen ver­lassen, dass „falsch“ oder zumin­d­est stark verkürzt ist. Das tut der Kraft sein­er Prosa eigentlich keinen Abbruch — die zitierte Pas­sage ist fan­tastisch (ich wün­schte wirk­lich, ich hätte die Geduld, den ganzen Roman zu lesen). Aber irgend­wie stört es mich trotzdem…

    Herr Mar­janović, dröge ist laut dem Wahrig Wörter­buch norddeutsch:

    drö|ge [Adj. ; nord­dt.; ugs.] 1 trock­en; das Brot ist schon ganz d. 2 lang­weilig; ein ~r Typ 

    Zumin­d­est in mein­er per­sön­lichen Vari­ante des Nord­deutschen kann das Wort allerd­ings nur in sein­er über­tra­ge­nen Bedeu­tung ver­wen­det werden.

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