Ich war diese Woche auf Forschungsreise am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen und hatte deshalb keine Zeit, die Tagespresse nach sprachwissenschaftlichen Meldungen zu durchforsten. Stattdessen habe ich auf der Rückreise drei sprachwissenschaftlich interessante Gespräche geführt oder mitgehört.
Auf der Strecke von Nijmegen nach Deventer saßen drei holländische Psychologiestudentinnen neben mir, die sich über ihr Studium unterhielten. Da ich kein Holländisch spreche, und da man anderer Leute Gespräche nich belauschen soll, habe ich nicht weiter hingehört. Bis eine von Ihnen folgenden Satz sagte:
Eskimo’s hebben twintig verschillende woorden voor sneeuw, terwijl wij ongeveer drie hebben.
Wie gesagt, ich spreche kein Holländisch, aber den Mythos von den Schneewörtern erkenne ich in jeder Sprache. Die Sprachbarriere hat mich daran gehindert, die drei an Ort und Stelle aufzuklären, deshalb hole ich es hier mit maschineller Unterstützung nach:
Beste studenten van de psychologie, dat is een mythe! De eskimo’s hebben slechts ongeveer twee of drie woorden voor sneeuw. Hier kunt u meer lezen over het.
Das Holländische hat übrigens auch eine ganze Menge Schneewörter, wenn man dieser Liste glauben darf.
In Deventer bin ich in den Zug nach Osnabrück umgestiegen. Dort saß ich in einem Abteil mit einem jungen Mädchen, die mir ungefragt erklärte, dass sie Sinti sei und dann eine lange Reihe von mal mehr, mal weniger interessanten Anekdoten erzählte. Ich hatte, ehrlich gesagt, innerlich ein bisschen abgeschaltet, als sie plötzlich anfing, mir von einem gerade erschienenen Wörterbuch Deutsch-Sinti zu erzählen. Die Existenz dieses Wörterbuchs empörte sie, da sie der Meinung war, dass die Deutschen damit „die Sprache der Sinti stehlen“ wollten. Mein Argument, dass Wörterbücher ja Übersetzungen in beide Richtungen enthalten und die Sinti damit nun auch die Möglichkeit hätten, die Sprache der Deutschen zu stehlen, fand sie mäßig überzeugend. Ich habe zu Hause dann übrigens nach diesem Wörterbuch recherchiert (also gegoogelt). Ich habe nichts neueres gefunden als das „Große Wörterbuch der Zigeunersprache“ von Siegmund A. Wolf aus dem Jahre 1987. Dafür fand ich folgendes Zitat (die Sinti und Roma sprechen unterschiedliche Dialekte des Romanes):
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist sicherlich, dass es in Romanes kein Wort für Altersheim gibt, was z.B. einen noch sehr intakten gesellschaftlichen Punkt von Sinti und Roma bestimmt, für die es unmöglich wäre, einen alten Menschen in ein Heim abzuschieben um in dort u.U. medikamentös bis zu seinen Tod „ruhig“ stellen zu lassen, wie es in der modernen Gesellschaft oft geschieht. Dies ist sicherlich u.a. ein sehr positiver Punkt in der Kultur von Sinti und Roma.
Das ist auf jeden Fall ein positiver Punkt für die Kultur der Sinti, aber es ist auch ein schönes Beispiel für den Orwellschen Mythos, dass die Nichtexistenz eines Wortes in einer Sprache die Sprecher daran hindert, über die durch dieses nicht existierende Wort bezeichneten Dinge nachzudenken, bzw. diese in ihr Handeln einzubeziehen.
Im Zug von Osnabrück nach Hamburg schließlich wollte ich die verbleibende Reisezeit endlich dazu nutzen, meine wöchentliche Portion Fachlektüre zu genießen. Eine Mitreisende nahm den Titel des ersten Aufsatzes — „Predicting the Dative Alternation“ — aber zum Anlass, über die Grammatik des Deutschen zu philosophieren. Die deutsche Grammatik, so fand sie, sei ja leider sehr viel schwieriger als die englische — vor allem seit der Rechtschreibreform. Ich habe das Gespräch dann schnell auf ein anderes Thema gelenkt und mich noch sehr nett unterhalten.
Das Holländische hat nicht eine ganze Menge Schneewörter. Die Liste von der Sie sprechen ist eine Liste von Wörter für minderwertiger Leute.
Herr Kleiweg, vielen Dank für den Hinweis. Sie haben natürlich Recht, ich hatte den falschen Link gesetzt, nämlich diesen hier. Dort geht es nicht um Schnee, sondern, wie Sie richtig sagen, um abwertende Bezeichnungen für Menschen. Der Autor des Textes fordert seine Leser auf, darüber nachzudenken, was es wohl über die Holländer aussagt, dass sie dreißig solche Wörter haben. Ich denke übrigens, das sagt gar nichts: erstens würde ich annehmen, dass es noch wesentlich mehr solcher Wörter gibt; zweitens gehe ich stark davon aus, dass alle Sprachen einen solchen Wortschatz haben. Sich über andere zu erheben ist nun mal ein unschöner aber menschlicher Wesenszug, für den man nicht allein die Holländer verantwortlich machen darf…
Den Link im Artikel habe ich korrigiert.
Kamen die drei Meisjes denn aus Südholland oder aus Nordholland die da von Gelderland nach Overijssel fuhren?
Corax, keine Ahnung. Wieso, unterscheiden sich die niederländischen Dialekte bezüglich ihres Schneevokabulars?
Was die Unterschiede bezüglich des Schneevokabulars angeht bin ich überfragt.
Allerdings dürfte es gewisse Unterschiede im Dialekt geben da in Nordholland das Friesische eine nicht unwesentliche Rolle spielt, im Gegensatz zu Südholland. Beide sind übrigens nur 2 Provinzen von insgesamt 12 der Niederlande. Weshalb ich mir die Frage stellte woher sie wissen, dass die drei Meisjes allesamt Holländerinen sind. Wenn mich jemand Sachse nennen würde wäre ich auch sehr verwundert weil ich doch aus dem Ruhrgebiet stamme.
Corax, ich muss mich entschuldigen — ich hatte, offensichtlich fälschlicherweise, angenommen, dass Sie etwas inhaltliches beitragen wollten.
Vielleicht hilft Ihnen aber dies hier weiter:
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist diese Benennung übrigens nicht ungewöhnlich: man nennt das Synekdoche (ein Sonderfall der Metonymie). Bei dem hier vorliegenden Fall der Synekdoche steht ein Teil (Holland) für das Ganze (die Niederlande). Ähnlich ist es auch mit anderen geografischen Bezeichnungen, z.B. mit England, das häufig synonym mit Großbritannien verwendet wird, und mit Russland, das häufig die Sowjetunion bezeichnete — ganz zu schweigen vom französischen Allemagne (Alemanien) für Deutschland. Es gibt natürlich auch den umgekehrten Fall, bei dem das Ganze für ein Teil steht, z.B. wenn Amerika für die USA, Europa für die Europäische Union oder im Englischen Germany („Germanien“) für Deutschland steht.
Strenggenommen (wenn man das aus irgendeinem Grund streng nehmen will) waren die drei Studentinnen aber wahrscheinlich Gelderländerinnen, da sie schon in Arnheim wieder ausgestiegen sind, also gar nicht bis Overijssel mitgefahren sind. Aber natürlich könnten sie auch aus einer anderen Provinz zugewandert sein.
Der besagte Auszug aus der Wikipedia ist mir durchaus bekannt, aber das macht es doch nicht besser. Davon dass man ständig nur das wiederholt, was andere auch falsch machen wird es auch nicht richtiger.
Als jemand der wegen der Grenznähe eine größere Beziehung zu den Niederlanden sowie einige niederländische Freunde hat, die nicht aus Holland stammen, kann ich ihnen sagen, dass es mich als auch die nicht aus Holland stammenden Niederländer nervt. Das wollte ich lediglich dezent “rüberbringen”. Das Sie das nicht wohlwollend zur Kenntnis nehmen, und bei der Gelegenheit vielleicht mit ihrem Hintergrunwissen erklärend darauf eingehen, sondern gleich so gereizt und oberlehrerhaft darauf reagieren, hätte ich nicht gedacht.
Die Bezeichnung Holländer für alle Niederländer wird zwar meistens “überhört” aber innerlich als unhöflich empfunden.
Und das so etwas schnell zu Verstimmungen führen kann konnte man erst kürzlich erleben als Condoleezza Rice die Russen als Soviets bezeichnete.
Ich wünsche ihnen trotzdem noch einen schönen Tag.
Corax, ich empfehle Ihnen nicht, nach Finnland zu gehen, dort werden Sie nämlich tatsächlich als saksalainen ‚Sachse‘ bezeichnet.
Ich möchte angesichts der Holland — Niederlande — Diskussion auch darauf aufmerksam machen, dass Franken keine Bayern sind, von den meisten Norddeutschen und von den Bayern aber gerne mal als solche bezeichnet werden, was den Franken wiederum mehr als unangenehm ist. Vielleicht sollten wir Franken uns mit den nicht-holländischen Niederländern mal solidarisieren…
Uwe, dafür nennen die Bayern uns allesamt „Preußen“, obwohl es Preußen gar nicht mehr gibt. Vor allem für uns Hamburger ist das eine Beleidigung, da wir nie Preußen waren. Und trotzdem mag ich die Bayern (und sogar die Franken).
Jens, vielen Dank für den Hinweis, das wusste ich gar nicht. Morgen mehr zu diesem Thema…
Die älteste bezeugte Stufe des Niederdeutschen nennt man auch Altsächsisch. Und Westfalen ist etymologisch betrachtet der westliche Teil von Sachsen. Das Finnische reflektiert hier also einen älteren Stand.
Zu “Nederland” und “Holland”: Ich war in den Niederlanden immer nur zu Besuch, genau wie Anatol, aber ich habe sechs Jahre im niederländischen Sprachraum gelebt (in Antwerpen). Und zumindest, was Fußballsprache angeht, haben Limburger oder Groninger kein Problem damit, “Hup Holland Hup” zu singen, wenn sie die Jungs in Orange anfeuern. Ich habe den Eindruck, dass real existierende Niederländer öfter von “Hollanders” sprechen als Flamen. Aber in Antwerpen wird auch “Nederlanders” fast als Schimpfwort verstanden, also kann ich nicht einschätzen, wie viele Nicht-Holländer die Verwendung von “Hollanders” für “Nederlanders” nervt. Die Leute, die ich fragen könnte, wohnen in Noord-Holland und gelten also nicht.
Übrigens gilt historisch betrachtet für Flandern fast das Gleiche wie für Holland: West- und Ostflandern sind eigentlich nur zwei westliche Provinzen und somit nur ein Teil von “Vlaanderen”, aber auch Belgier aus Vlaams-Brabant oder Limburg, deren Muttersprache Niederländisch ist, heißen Flamen (Vlamingen). Der Unterschied zum nördlichen Nachbarn ist, dass in Belgien “Vlaanderen” und “Vlaams” auch offizielle Bezeichnungen sind, die nicht nur auf West- und Ostflandern verweisen.
Meine Oma würde mich auslachen, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich in die Niederlande gefahren bin. Im Rheinland hört sich das ähnlich albern an, wie wenn man sagt, dass man die Bundesrepublik Deutschland verlassen hat. Allerdings würde meine Oma auch fragen, ob Anatol in Nimwegen gewesen ist, oder ob Nijmegen eine andere Stadt ist.
Ich glaube, es war Volker Pispers, der in einem älteren Programm erst Witze über Wohnwagen auf deutschen Autobahnen gerissen hat und dann hinzufügte: “Sehen Sie, das ist erlaubter Rassismus!” Nach meinem Eindruck sind Niederländer, wie z.B. auch Dänen, in Deutschland durchaus beliebt, auch wenn man Witze über sie macht. Es stellt sich also die Frage, ob es politisch korrekt ist, auf dem Begriff “Niederlande” zu bestehen, oder ob das oberlehrerhaft ist. Geschmackssache.
Da scheine ich ja für eine interessantere Diskussion gesorgt zu haben als die Frage wie viele Wörter für Schnee das Niederländische kennt. Das sie überhaupt ein Wort dafür haben ist doch schon ein Wunder, wahrscheinlich brauchen sie es eh nur um das weiße Zeugs im Sauerland zu beschreiben.
Ganz so verbissen wie es den Anschein hat seh ich die Frage ob Holland oder Niederlande übrigens auch nicht.
Bei den hier bisher aufgeführten Beispielen sollte man meiner Meinung nach aber zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten unterscheiden. Nämlich ob es in der Sprache des Absenders eine “offizielle/korrekte” Bezeichnung für den Siedlungsraum des Empfängers gibt oder ob ein “falscher/ungenauer” Begriff die offizielle Bezeichnung dafür ist.
Ein Schotte kann sich wohl zu Recht beleidigt fühlen, falls er von uns als Engländer bezeichnet würde, schliesslich ist er Schotte oder Brite. Jemand aus Bozen wäre eventuell beleidigt wenn man ihn Italiener nennen würde aber in diesem Fall hätte ja nun der Absender Recht obs dem Empfänger nun passt oder nicht. Das Beispiel Franken Bayern ist mir zufällig bekannt aber wenn nun Jemand aus Kiel einen Besucher aus Würzburg einem Bundesland zuordnet und ihn Bayer oder “aus Bayern” nennt dann ist das ja nicht beleidigend gemeint sondern so etwas wie “Höhere Gewalt” denn der Kieler kann ja nichts dafür das Franken dem Freistaat Bayern zugeordnet wurde ohne im Namen weiter genannt zu werden. Und wir lassen uns ja von den Griechen auch nicht vorschreiben sie Hellenen zu nennen.
Das mit Saksalainen (Sachse) wusste ich auch noch nicht. Da gefällt mir die chinesische Bezeichnung Deguo-ren von Tugendland etwas besser.
Bezüglich Nimwegen — Nijmegen kommt mir da gerade spontan der US-Staat Arkansas in den Sinn.
MfG corax