Schnee, Sprachdiebe, Schreibschwierigkeiten

Von Anatol Stefanowitsch

Ich war diese Woche auf Forschungsreise am Max-Planck-Insti­tut für Psy­cholin­guis­tik in Nijmegen und hat­te deshalb keine Zeit, die Tage­spresse nach sprach­wis­senschaftlichen Mel­dun­gen zu durch­forsten. Stattdessen habe ich auf der Rück­reise drei sprach­wis­senschaftlich inter­es­sante Gespräche geführt oder mitgehört.

Auf der Strecke von Nijmegen nach Deven­ter saßen drei hol­ländis­che Psy­cholo­gi­es­tu­dentin­nen neben mir, die sich über ihr Studi­um unter­hiel­ten. Da ich kein Hol­ländisch spreche, und da man ander­er Leute Gespräche nich belauschen soll, habe ich nicht weit­er hinge­hört. Bis eine von Ihnen fol­gen­den Satz sagte:

Eskimo’s hebben twintig ver­schil­lende woor­den voor sneeuw, ter­wi­jl wij ongeveer drie hebben.

Wie gesagt, ich spreche kein Hol­ländisch, aber den Mythos von den Schneewörtern erkenne ich in jed­er Sprache. Die Sprach­bar­riere hat mich daran gehin­dert, die drei an Ort und Stelle aufzuk­lären, deshalb hole ich es hier mit maschineller Unter­stützung nach: 

Beste stu­den­ten van de psy­cholo­gie, dat is een mythe! De eskimo’s hebben slechts ongeveer twee of drie woor­den voor sneeuw. Hier kunt u meer lezen over het.

Das Hol­ländis­che hat übri­gens auch eine ganze Menge Schneewörter, wenn man dieser Liste glauben darf.

In Deven­ter bin ich in den Zug nach Osnabrück umgestiegen. Dort saß ich in einem Abteil mit einem jun­gen Mäd­chen, die mir unge­fragt erk­lärte, dass sie Sin­ti sei und dann eine lange Rei­he von mal mehr, mal weniger inter­es­san­ten Anek­doten erzählte. Ich hat­te, ehrlich gesagt, inner­lich ein biss­chen abgeschal­tet, als sie plöt­zlich anf­ing, mir von einem ger­ade erschiene­nen Wörter­buch Deutsch-Sin­ti zu erzählen. Die Exis­tenz dieses Wörter­buchs empörte sie, da sie der Mei­n­ung war, dass die Deutschen damit „die Sprache der Sin­ti stehlen“ woll­ten. Mein Argu­ment, dass Wörter­büch­er ja Über­set­zun­gen in bei­de Rich­tun­gen enthal­ten und die Sin­ti damit nun auch die Möglichkeit hät­ten, die Sprache der Deutschen zu stehlen, fand sie mäßig überzeu­gend. Ich habe zu Hause dann übri­gens nach diesem Wörter­buch recher­chiert (also gegoogelt). Ich habe nichts neueres gefun­den als das „Große Wörter­buch der Zige­uner­sprache“ von Sieg­mund A. Wolf aus dem Jahre 1987. Dafür fand ich fol­gen­des Zitat (die Sin­ti und Roma sprechen unter­schiedliche Dialek­te des Romanes):

Erwäh­nenswert in diesem Zusam­men­hang ist sicher­lich, dass es in Romanes kein Wort für Alter­sheim gibt, was z.B. einen noch sehr intak­ten gesellschaftlichen Punkt von Sin­ti und Roma bes­timmt, für die es unmöglich wäre, einen alten Men­schen in ein Heim abzuschieben um in dort u.U. medika­men­tös bis zu seinen Tod „ruhig“ stellen zu lassen, wie es in der mod­er­nen Gesellschaft oft geschieht. Dies ist sicher­lich u.a. ein sehr pos­i­tiv­er Punkt in der Kul­tur von Sin­ti und Roma.

Das ist auf jeden Fall ein pos­i­tiv­er Punkt für die Kul­tur der Sin­ti, aber es ist auch ein schönes Beispiel für den Orwellschen Mythos, dass die Nich­tex­is­tenz eines Wortes in ein­er Sprache die Sprech­er daran hin­dert, über die durch dieses nicht existierende Wort beze­ich­neten Dinge nachzu­denken, bzw. diese in ihr Han­deln einzubeziehen.

Im Zug von Osnabrück nach Ham­burg schließlich wollte ich die verbleibende Reisezeit endlich dazu nutzen, meine wöchentliche Por­tion Fach­lek­türe zu genießen. Eine Mitreisende nahm den Titel des ersten Auf­satzes — „Pre­dict­ing the Dative Alter­na­tion“ — aber zum Anlass, über die Gram­matik des Deutschen zu philoso­phieren. Die deutsche Gram­matik, so fand sie, sei ja lei­der sehr viel schwieriger als die englis­che — vor allem seit der Rechtschreibre­form. Ich habe das Gespräch dann schnell auf ein anderes The­ma gelenkt und mich noch sehr nett unterhalten.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

12 Gedanken zu „Schnee, Sprachdiebe, Schreibschwierigkeiten

  1. Anatol Stefanowitsch

    Herr Klei­weg, vie­len Dank für den Hin­weis. Sie haben natür­lich Recht, ich hat­te den falschen Link geset­zt, näm­lich diesen hier. Dort geht es nicht um Schnee, son­dern, wie Sie richtig sagen, um abw­er­tende Beze­ich­nun­gen für Men­schen. Der Autor des Textes fordert seine Leser auf, darüber nachzu­denken, was es wohl über die Hol­län­der aus­sagt, dass sie dreißig solche Wörter haben. Ich denke übri­gens, das sagt gar nichts: erstens würde ich annehmen, dass es noch wesentlich mehr solch­er Wörter gibt; zweit­ens gehe ich stark davon aus, dass alle Sprachen einen solchen Wortschatz haben. Sich über andere zu erheben ist nun mal ein unschön­er aber men­schlich­er Wesen­szug, für den man nicht allein die Hol­län­der ver­ant­wortlich machen darf…

    Den Link im Artikel habe ich korrigiert.

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  2. corax

    Kamen die drei Meis­jes denn aus Süd­hol­land oder aus Nord­hol­land die da von Gelder­land nach Over­i­js­sel fuhren?

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  3. corax

    Was die Unter­schiede bezüglich des Schnee­vok­ab­u­lars ange­ht bin ich überfragt.

    Allerd­ings dürfte es gewisse Unter­schiede im Dialekt geben da in Nord­hol­land das Friesis­che eine nicht unwesentliche Rolle spielt, im Gegen­satz zu Süd­hol­land. Bei­de sind übri­gens nur 2 Prov­inzen von ins­ge­samt 12 der Nieder­lande. Weshalb ich mir die Frage stellte woher sie wis­sen, dass die drei Meis­jes alle­samt Hol­län­der­i­nen sind. Wenn mich jemand Sachse nen­nen würde wäre ich auch sehr ver­wun­dert weil ich doch aus dem Ruhrge­bi­et stamme.

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  4. Anatol Stefanowitsch

    Corax, ich muss mich entschuldigen — ich hat­te, offen­sichtlich fälschlicher­weise, angenom­men, dass Sie etwas inhaltlich­es beitra­gen wollten.

    Vielle­icht hil­ft Ihnen aber dies hier weiter:

    Im deutschen wie im englis­chen und franzö­sis­chem Sprachge­brauch wird Hol­land oft als Syn­onym für die Nieder­lande benutzt. Dies ist bere­its auf das aus­ge­hende 16. Jahrhun­dert zurück­zuführen, als die Repub­lik der Sieben Vere­inigten Nieder­lande ent­stand, deren ein­flussre­ich­ste Prov­inz Hol­land war.

    Aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht ist diese Benen­nung übri­gens nicht ungewöhn­lich: man nen­nt das Synek­doche (ein Son­der­fall der Metonymie). Bei dem hier vor­liegen­den Fall der Synek­doche ste­ht ein Teil (Hol­land) für das Ganze (die Nieder­lande). Ähn­lich ist es auch mit anderen geografis­chen Beze­ich­nun­gen, z.B. mit Eng­land, das häu­fig syn­onym mit Großbri­tan­nien ver­wen­det wird, und mit Rus­s­land, das häu­fig die Sow­je­tu­nion beze­ich­nete — ganz zu schweigen vom franzö­sis­chen Alle­magne (Ale­manien) für Deutsch­land. Es gibt natür­lich auch den umgekehrten Fall, bei dem das Ganze für ein Teil ste­ht, z.B. wenn Ameri­ka für die USA, Europa für die Europäis­che Union oder im Englis­chen Ger­many („Ger­manien“) für Deutsch­land steht.

    Strenggenom­men (wenn man das aus irgen­deinem Grund streng nehmen will) waren die drei Stu­dentin­nen aber wahrschein­lich Gelder­län­derin­nen, da sie schon in Arn­heim wieder aus­gestiegen sind, also gar nicht bis Over­i­js­sel mit­ge­fahren sind. Aber natür­lich kön­nten sie auch aus ein­er anderen Prov­inz zuge­wan­dert sein.

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  5. corax

    Der besagte Auszug aus der Wikipedia ist mir dur­chaus bekan­nt, aber das macht es doch nicht bess­er. Davon dass man ständig nur das wieder­holt, was andere auch falsch machen wird es auch nicht richtiger.

    Als jemand der wegen der Gren­znähe eine größere Beziehung zu den Nieder­lan­den sowie einige nieder­ländis­che Fre­unde hat, die nicht aus Hol­land stam­men, kann ich ihnen sagen, dass es mich als auch die nicht aus Hol­land stam­menden Nieder­län­der nervt. Das wollte ich lediglich dezent “rüber­brin­gen”. Das Sie das nicht wohlwol­lend zur Ken­nt­nis nehmen, und bei der Gele­gen­heit vielle­icht mit ihrem Hin­ter­grun­wis­sen erk­lärend darauf einge­hen, son­dern gle­ich so gereizt und ober­lehrerhaft darauf reagieren, hätte ich nicht gedacht.

    Die Beze­ich­nung Hol­län­der für alle Nieder­län­der wird zwar meis­tens “über­hört” aber inner­lich als unhöflich empfunden.

    Und das so etwas schnell zu Ver­stim­mungen führen kann kon­nte man erst kür­zlich erleben als Con­doleez­za Rice die Russen als Sovi­ets bezeichnete.

    Ich wün­sche ihnen trotz­dem noch einen schö­nen Tag.

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  6. Jens

    Corax, ich empfehle Ihnen nicht, nach Finn­land zu gehen, dort wer­den Sie näm­lich tat­säch­lich als sak­salainen ‚Sachse‘ bezeichnet.

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  7. Uwe

    Ich möchte angesichts der Hol­land — Nieder­lande — Diskus­sion auch darauf aufmerk­sam machen, dass Franken keine Bay­ern sind, von den meis­ten Nord­deutschen und von den Bay­ern aber gerne mal als solche beze­ich­net wer­den, was den Franken wiederum mehr als unan­genehm ist. Vielle­icht soll­ten wir Franken uns mit den nicht-hol­ländis­chen Nieder­län­dern mal solidarisieren…

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  8. Anatol Stefanowitsch

    Uwe, dafür nen­nen die Bay­ern uns alle­samt „Preußen“, obwohl es Preußen gar nicht mehr gibt. Vor allem für uns Ham­burg­er ist das eine Belei­di­gung, da wir nie Preußen waren. Und trotz­dem mag ich die Bay­ern (und sog­ar die Franken).

    Jens, vie­len Dank für den Hin­weis, das wusste ich gar nicht. Mor­gen mehr zu diesem Thema…

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  9. Andreas Ammann

    Die älteste bezeugte Stufe des Niederdeutschen nen­nt man auch Alt­säch­sisch. Und West­falen ist ety­mol­o­gisch betra­chtet der west­liche Teil von Sach­sen. Das Finnis­che reflek­tiert hier also einen älteren Stand.

    Zu “Ned­er­land” und “Hol­land”: Ich war in den Nieder­lan­den immer nur zu Besuch, genau wie Ana­tol, aber ich habe sechs Jahre im nieder­ländis­chen Sprachraum gelebt (in Antwer­pen). Und zumin­d­est, was Fußball­sprache ange­ht, haben Lim­burg­er oder Groninger kein Prob­lem damit, “Hup Hol­land Hup” zu sin­gen, wenn sie die Jungs in Orange anfeuern. Ich habe den Ein­druck, dass real existierende Nieder­län­der öfter von “Hol­lan­ders” sprechen als Fla­men. Aber in Antwer­pen wird auch “Ned­er­lan­ders” fast als Schimpf­wort ver­standen, also kann ich nicht ein­schätzen, wie viele Nicht-Hol­län­der die Ver­wen­dung von “Hol­lan­ders” für “Ned­er­lan­ders” nervt. Die Leute, die ich fra­gen kön­nte, wohnen in Noord-Hol­land und gel­ten also nicht.

    Übri­gens gilt his­torisch betra­chtet für Flan­dern fast das Gle­iche wie für Hol­land: West- und Ost­flan­dern sind eigentlich nur zwei west­liche Prov­inzen und somit nur ein Teil von “Vlaan­deren”, aber auch Bel­gi­er aus Vlaams-Bra­bant oder Lim­burg, deren Mut­ter­sprache Nieder­ländisch ist, heißen Fla­men (Vlamin­gen). Der Unter­schied zum nördlichen Nach­barn ist, dass in Bel­gien “Vlaan­deren” und “Vlaams” auch offizielle Beze­ich­nun­gen sind, die nicht nur auf West- und Ost­flan­dern verweisen.

    Meine Oma würde mich aus­lachen, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich in die Nieder­lande gefahren bin. Im Rhein­land hört sich das ähn­lich albern an, wie wenn man sagt, dass man die Bun­desre­pub­lik Deutsch­land ver­lassen hat. Allerd­ings würde meine Oma auch fra­gen, ob Ana­tol in Nimwe­gen gewe­sen ist, oder ob Nijmegen eine andere Stadt ist.

    Ich glaube, es war Volk­er Pis­pers, der in einem älteren Pro­gramm erst Witze über Wohn­wa­gen auf deutschen Auto­bah­nen geris­sen hat und dann hinzufügte: “Sehen Sie, das ist erlaubter Ras­sis­mus!” Nach meinem Ein­druck sind Nieder­län­der, wie z.B. auch Dänen, in Deutsch­land dur­chaus beliebt, auch wenn man Witze über sie macht. Es stellt sich also die Frage, ob es poli­tisch kor­rekt ist, auf dem Begriff “Nieder­lande” zu beste­hen, oder ob das ober­lehrerhaft ist. Geschmackssache.

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  10. corax

    Da scheine ich ja für eine inter­es­san­tere Diskus­sion gesorgt zu haben als die Frage wie viele Wörter für Schnee das Nieder­ländis­che ken­nt. Das sie über­haupt ein Wort dafür haben ist doch schon ein Wun­der, wahrschein­lich brauchen sie es eh nur um das weiße Zeugs im Sauer­land zu beschreiben.

    Ganz so ver­bis­sen wie es den Anschein hat seh ich die Frage ob Hol­land oder Nieder­lande übri­gens auch nicht.

    Bei den hier bish­er aufge­führten Beispie­len sollte man mein­er Mei­n­ung nach aber zwis­chen zwei ver­schiede­nen Möglichkeit­en unter­schei­den. Näm­lich ob es in der Sprache des Absenders eine “offizielle/korrekte” Beze­ich­nung für den Sied­lungsraum des Empfängers gibt oder ob ein “falscher/ungenauer” Begriff die offizielle Beze­ich­nung dafür ist.

    Ein Schotte kann sich wohl zu Recht belei­digt fühlen, falls er von uns als Englän­der beze­ich­net würde, schliesslich ist er Schotte oder Brite. Jemand aus Bozen wäre eventuell belei­digt wenn man ihn Ital­iener nen­nen würde aber in diesem Fall hätte ja nun der Absender Recht obs dem Empfänger nun passt oder nicht. Das Beispiel Franken Bay­ern ist mir zufäl­lig bekan­nt aber wenn nun Jemand aus Kiel einen Besuch­er aus Würzburg einem Bun­des­land zuord­net und ihn Bay­er oder “aus Bay­ern” nen­nt dann ist das ja nicht belei­di­gend gemeint son­dern so etwas wie “Höhere Gewalt” denn der Kiel­er kann ja nichts dafür das Franken dem Freis­taat Bay­ern zuge­ord­net wurde ohne im Namen weit­er genan­nt zu wer­den. Und wir lassen uns ja von den Griechen auch nicht vorschreiben sie Hel­lenen zu nennen.

    Das mit Sak­salainen (Sachse) wusste ich auch noch nicht. Da gefällt mir die chi­ne­sis­che Beze­ich­nung Deguo-ren von Tugend­land etwas besser.

    Bezüglich Nimwe­gen — Nijmegen kommt mir da ger­ade spon­tan der US-Staat Arkansas in den Sinn.

    MfG corax

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