Hinterstrich, Nachstrich, Oberstrich, Oberhäklein, Hochkomma, Auslassungszeichen — das sind nur einige der vielen Namen, mit denen er in seiner etwa vierhundertjährigen Lebensgeschichte gerufen wurde: der Apostroph. Und wie kaum ein anderes Interpunktionszeichen erhitzt er die Gemüter, wenn er außerhalb der Duden-Regeln verwendet wird. Dabei lassen sich fünf grobe Kategorien normabweichender Verwendungen unterscheiden:
- Der Genitiv-Apostroph (Uschi’s Hundesalon; Künzel’s Brillen und Contactlinsen; wie zu Oma’s Zeiten; im Süden Namibia’s)
- Der Plural-Apostroph (Büro’s frei; Hit’s und Trend’s; für unsere Puppenmama’s); dieser Fall findet sich manchmal auch bei Pluralbildungen mit -n (Party Idee’n; Hamburgs schönste Ecke’n; Musik-CD’n)
- Der „falsche“ Auslassungsapostroph (Bei’m Wolfgang; Geschichten für’s Herz; Tritt gegen’s Schienenbein)
- Der Verbform-Apostroph (Du schein’st es ja kapiert zu haben; um ihre Wahl zu speicher’n; schau’t einfach mal nach; Pack’ das Auto ins Gepäck; Spiel’ mit mir)
- Der (scheinbar) beliebige Apostroph (Alles ist O’K; braungetiger’ter Kater; Hobb’y 24; 4. Abfahrt recht’s; Super eBay’er; Düsseldorfer Kios’k)
Dutzende von Webseiten widmen sich ausschließlich solchen Verwendungen, als „Deppenapostroph“, „Kapostroph“ oder „(ansteckende) Apostrophitis“ bezeichnet. Drei der bekannteren sind das „Katastropheum“ (mit „Gruselgalerie“, aus der auch die hier genannten Beispiele stammen), die „Apostroph-S-Hass-Seite“ und der „Apo’strophen Alarm!“. Neben der (oft durchaus vergnüglich kommentierten) fotografischen Dokumentation normabweichender Apostrophe teilen diese Webseiten eine Reihe von Grundannahmen.
Erstens gehen Sie davon aus, dass diese Verwendungen aus dem Englischen ins Deutsche übernommen wurden. Der Apo’strophen Alarm postuliert folgende, repräsentative Entwicklungsgeschichte:
Der kollektive Unfug hat sich in mehreren Schritten vollzogen:
- Zunächst wurde das Genitiv‑s aus dem Englischen übernommen: Peter’s
- Sodann hat man manche Pluralformen apostrophiert, Vorreiter waren hier „Media Markt“, „ProMarkt“ und andere Ladenketten mit Schildern wie CD’s, MC’s, Video’s etc.
- Inzwischen wird — anscheinend wahllo’s — der letzte Buchstabe durch Apostroph abgetrennt: Samstag’s ab 8 Uhr.
Dabei gehen die Apostrophenjäger zweitens davon aus, dass kosmopolitische Begehrlichkeiten die Motivation für die Übernahme darstellen. So vermutet das Katastropheum:
Der übermäßige Mißbrauch des Apostrophs ist insofern nur eine Ausprägung des Dranges, durch eine übertriebene Anwendung englischer Sprachaspekte einen Eindruck von Weltläufigkeit erzielen zu wollen — und sei es für Klopapier in einem Drogeriediscount.
Drittens zweifeln die Betreiber nicht nur am orthografischen Wissen der „Apostrophensünder“, sondern an deren Intelligenz. So verleiht die Apostroph-S-Hass-Seite den Titel „Größter anzunehmender Idiot“ an die Urheber nicht-dudenkonformer Apostrophe.
Haben die Apologeten der Apostrophe recht mit diesen Annahmen? Ist man ein Depp, wenn einem ein Deppenapostroph herausrutscht? Handelt es sich um eine Unsitte aus dem Englischen?
Beginnen wir mit der Geschichte des Apostroph (die Informationen darüber beziehe ich aus einem auch für Laien lesbaren Überblicksartikel meines Erfurter Kollegen Wolf Peter Klein). Der Apostroph kommt ursprünglich aus dem Griechischen, wo er verwendet wurde, um weggelassene Vokale am Wortende zu kennzeichnen. In dieser Verwendung findet man ihn schon in mittelalterlichen Handschriften. Seit dem 17. Jahrhundert findet er sich auch in gedruckten Texten zur Kennzeichnung von Auslassungen am Wortende (Blum’ statt Blume) und bald auch in der Wortmitte (heil’ge für heilige). Im 18. Jahrhunder kamen auch Auslassungen am Wortanfang dazu (’s für es, ’naus für hinaus). Damit waren im wesentlichen alle Verwendungen vorhanden, die auch heute noch als normgerecht gelten.
Wann kamen die „Deppenapostrophe“ hinzu? Glaubt man den Apostrophenjägern, so muss dies in jüngerer Zeit geschehen sein, da ein intensiver Einfluss des Englischen sich erst seit dem Ende des zweiten Weltkriegs beobachten lässt, und die vemeintlichen Hauptschuldigen, die Elektronikmärkte, gibt es sogar erst seit dem Ende der siebziger Jahre. Eine schöne Erklärung, mit der man die Apostrophitis als eins von vielen Symptomen des „denglischen Patienten“ abhaken könnte.
Leider ist diese Erklärung falsch.
Der Genitiv-Apostroph findet sich bereits seit Mitte des 17. Jahrhunderts, erst bei Eigennamen und bald auch bei Ortsnamen und anderen Wörtern. Der Plural-Apostroph findet sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Zunächst störte sich auch weiter niemand an diesen Verwendungen.
In Friedrich Nietzsches Briefen und Notizen beispielsweise finden sich hunderte von Genitiv-Apostrophen:
Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch einmal wie Fortschritt an; wenn aber
nicht, so mag Friedrich’s des Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste … (Menschliches, Allzumenschliches I/Nachgelassene Fragmente).
Ich gehe, seit einigen Monaten schon, jeden Abend von 1/2 10–11 in raschem Schritt durch Theile Venedig’s (Brief von Heinrich Köselitz an Nietzsche, 1882)
Aufs Kind die Hände prüfend legen Und schauen ob es Vater’s Art — Wer weiss? (Menschliches, Allzumenschliches I/Nachgelassene Fragmente)
Auch der Plural-Apostroph findet sich bei gebildeten Zeitgenossen Nietzsches:
Hätte ich überall in denjenigen Fällen Comma’s setzen wollen, wo Sie selbige dann und wann einmal gesetzt… (August Wilhelm Schlegel, Brief an Schleiermacher, 1804)
Dieser Abschnitt enthält eine sehr beachtenswerte Kritik der Lehmann’schen Methode, die der Herr Verfasser mit den folgenden Motto’s einleitet … (Grunert, Archiv der Mathematik…)
Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts trafen diese Verwendungen auf Widerstand. Vor allem die Entscheidung Konrad Dudens, sie explitzit als regelwidrig zu behandeln, trugen zu ihrem Niedergang bei. Nicht jeder ließ sich allerdings von diesen Verboten beeindrucken. So soll Thomas Mann den Apostroph nach Lust und Laune weiterverwendet haben (Belege konnte ich leider nicht finden, wer welche kennt, soll sie gerne hier posten oder mir schicken).
Ist man also ein Depp, wenn man den Deppenapostroph verwendet? Ein kleines bisschen vielleicht, da man sich ohne große Not der Häme einiger Mitmenschen aussetzt. Anders als beispielsweise die prä- und postreformatorischen Kommaregeln sind die Regeln für den Apostroph ja denkbar einfach (im Zweifelsfall kann man den Apostroph einfach grundsätzlich weglassen — das wird zu sehr wenigen Fehlern führen). Die Tatsache, dass diese Regeln so einfach sind, dürfte übrigens ein Grund für die Sammelwut der Apostrophenjäger sein: der „Deppenapostroph“ ist auch ohne vertieftes interpunktorisches Wissen leicht zu erkennen. Interessanterweise gibt es ja keine Webseiten, die dem Sammeln von falsch gesetzten Kommas gewidmet sind („Deppenkomma“: 118 Google-Treffer; „Deppenapostroph“: 45.100 Google-Treffer).
Als lesender Mensch kann ich ja die Vorteile einer einheitlichen Rechtschreibung durchaus erkennen und habe den größten Respekt vor den Armeen von Lektoren und Lektorinnen, die dafür sorgen, dass sie strengstens eingehalten wird. Regelkonforme Interpunktion ist zwar genausowenig ein Maßstab für menschliche Intelligenz wie das Wissen, mit welchem Messer man Fisch schneidet und aus welchem Glas man Weißwein trinken darf. Aber sie erleichtert es, effektive Lesestrategien zu entwickeln, Datenbanken nach Informationen zu durchsuchen, usw. Wenn nun einmal ein relativ breiter Konsens darüber besteht, den Apostroph nur für bestimmte Auslassungen zu verwenden, kann ich nur empfehlen, sich an diesen Konsens zu halten.
Ich kann natürlich auch über besonders mutwillige Missgriffe bei der Verwendung lächeln (Monsieur Alfon’s, Sie sind dra’n, Na So Wa’s; allesamt aus der Kategorie „Völlig Willenlos“ im Kapostropheum). Als Sprachwissenschaftler finde ich die normabweichenden Apostrophe aber eher interessant als lustig. Sie haben nämlich mit wenigen Ausnahmen alle eines gemeinsam: Sie markieren Wortstamm-Grenzen und sie tun es häufig dort, wo sonst Verwirrung bezüglich dieser Grenze entstehen könnte. Das haben bereits im 19. Jahrhundert deskriptiv orientierte Grammatiker erkannt, sie konnten sich mit dieser Einsicht aber gegen den aufkommenden Apostrophenhass nicht durchsetzen.
Die Urheber der „Deppenapostrophe“ haben also offensichtlich (unbewusstes) Wissen über Wortstämme und darüber, wo Probleme bei deren Identifikation auftreten könnte. Dieses Wissen haben sie vermutlich nicht in der Schule gelernt (denn dann hätten sie wohl auch die Apostrophierungsregeln verinnerlicht). Es handelt sich also um Wissen, das aus der (unbewussten) Analyse sprachlicher Muster hervorgegangen ist. Diese unbewusste analytische Fähigkeit, die alle Menschen haben, ist eins der faszinierensten Phänomene für den Sprachwissenschaftler. Denn diese Fähigkeit ist es, die uns von allen anderen Tieren unterscheidet und die unser Kommunikationssystem so flexibel und hochkomplex macht.
Wie so oft kann man Sprache also auch in Bezug auf den „Deppenapostroph“ auf zweierlei Weise betrachten. Man kann eine Norm setzen und sich dann über diejenigen erheben, die dieser Norm nicht gerecht werden. Man fühlt sich dann ein paar Minuten lang seinen Mitmenschen überlegen, was ja sehr schön sein kann, aber man hat eben nichts über die menschliche Natur gelernt (außer vielleicht, dass Schadenfreude die schönste Freude ist). Oder man kann sich ansehen, wie die Menschen sich, fernab jeder Norm, tatsächlich verhalten und man kann versuchen zu verstehen, warum sie das tun. Dabei entdeckt man dann oft, dass die scheinbaren Deppen hochkomplexen Regeln folgen, nur eben nicht denen, auf die sich die Deppenjäger fixiert haben.
Lektüretip
KLEIN, Wolf Peter (2002): Der Apostroph in der deutschen Gegenwartssprache. Logographische Gebrauchserweiterungen auf phonographischer Basis. Zeitschrift für germanistische Linguistik 30.2: 169–197. [PDF]
Die oben zitierten gebildeten „Deppenapostrophe“ stammen aus folgenden Werken:
GRUNERT, Johann August (1856): Archiv der Mathematik und Physik mit besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse der Lehrer an höheren Unterrichtsanstalten. Greifswald: C. A. Koch.
NIETZSCHE, Friedrich (1967): Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin, Walter de Gruyter.
SCHLEIERMACHER, Friedrich (2005): Kritische Gesamtausgabe. Band 7: Briefwechsel 1803 — 1804. Hrsg. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Berlin: Walter de Gruyter.
Ein sehr schöner Beitrag. Endlich mal eine andere Sichtweise auf die “wuchernden Apostrophe” der heutigen Zeit.
Auch sehr interessant ist, dass der “Deppenapostroph” nicht auf das Deutsche beschränkt ist. Im Englischen scheint es ähnliche Probleme zu geben. Besonders schön auf den Punkt bringt es der Comic Bob, The Angry Flower mit seinem Quick Guide to the Apostrophe und der vielleicht einzigen Lösung des Problems falsch gesetzter Apostrophe.
“…und man kann versuchen zu verstehen, warum sie das tun.”
Dem stimme ich zu, möchte aber darauf hinweisen, daß das nur unzureichend getan ist, indem man feststellt, daß “Deppenapostrophsetzer” unbewußt Wortstammgrenzen markieren.
Die interessante Frage ist dann doch: Warum markieren so viele Sprecher Wortstammgrenzen? Was ist an Wortstämmen so markierenswert? Wieso stören Flexionssuffixe?
In einem Germanistik-Hauptseminar, das ich besuchte, schien man sich darauf zu verständigen, daß die “Übeltäter” wohl Eigen- bzw. Ortsnamen gleichsam schützen wollten. Ähnliches Verhalten scheint es auch bzgl. Bindestrichen bei Namen zu geben: Z.B. heißt es offiziell tatsächlich “Johannes Gutenberg-Universität Mainz”. Mans cheint anzunehmen, es wäre pietätlos, Gutenberg ein Strichlein hinter den Vornamen zu klatschen.
Betrachtet man Sprachen wie das Finnische, kann man diesen Namensprotektionismus gar nicht mehr nachvollziehen. Die Herren Häkkinen, Räikkönen und Kovalainen müssen im Genitiv nicht bloß ein harmloses “s” am Wortende erdulden, nein, es wird ihnen mitten in den Namen gehauen: “Häkkisen auto”. Ich denke nicht, daß Mika das sonderlich ärgert.
Oder erst die armen Einwohner Turkus — deren Stadt verliert u.a. im Genitiv einen ganzen Buchstaben: “Turun yliopisto”.
Die These, die Wortstämme würden deshalb so gerne gekennzeichnet, weil viele Sprecher ein “Gefühl” für Eigennamen hätten, leuchtet daher schwerlich ein.
Also: Daß der “Deppenapostroph” Wortstämme markiere, reicht mir als Erkärung noch nicht. Da muß man weiterfragen.
Herr Müller, die Beobachtung mit den Wortstammgrenzen erklärt natürlich nicht (oder nicht vollständig) warum Sprecher des Deutschen den Apostroph überhaupt „falsch“ verwenden; sie erklärt lediglich, nach welchen Prinzipien sie vorgehen, wenn sie es tun. Bei diesen Prinzipien spielen sicher Wortstammgrenzen allgemein ein Rolle, nicht nur Eigennamen, wobei Eigennamen durchaus eine besondere Stellung haben könnten.
Eine ganz vage Theorie zum eigentlichen Grund der Verwendung wäre diese: (i) Sprecher (einer Sprache wie) des Deutschen haben ein gewisses Bedürfnis, Wortgrenzen zu markieren und (ii) als der Apostroph auftauchte, sah er so aus, als könne er diesem Bedürfnis entgegenkommen (da er häufig zufällig an Wortstammgrenzen stand). So bildete sich eine Tradition heraus, die zwar nie den Sprung in die Standardorthografie geschafft hat, aber die sichtbar genug ist, um sich selbst am Leben zu erhalten und vielleicht sogar zu verstärken. Das andere Sprachen, etwa das Finnische, diese Tradition nicht haben, spricht zunächst nicht gegen diese Theorie, da sich eine entsprechende Tradition ja nicht zwingend herausbilden muss. Im Finnischen scheint mir eine der Hauptfunktionen des Apostroph die zu sein, identische Laute an Silbengrenzen zu markieren — diese Funktion lässt sich nicht so leicht als Stammgrenzensignal uminterpretieren wie die Auslassungsfunktion im Deutschen. So haben die Finnen eventuell das gleiche Bedürfnis nach der Markierung von Stammgrenzen, ihre Orthografie bietet ihnen aber kein Satzzeichen, dass sich hierfür „zweckentfremden“ ließe.
Herr Stefanowitsch,
Ihnen ist der kleine Lapsus passiert, “Apostroph” in zwei Genera zu verwenden: “der Genitiv-Apostroph”, “das Plural-Apostroph”, in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen. Vielleicht geht es Ihnen wie mir, der ich zu Schulzeiten “das Apostroph” gelernt und mir erst später das Maskulinum angewöhnt habe.
Ob man die Bindestriche braucht und nicht doch besser “Pluralapostroph” usw. schreibt, mag ich nicht entscheiden; ich würde (regelkonform)auf die Bindestriche verzichten. Die sog. Rechtschreibung scheint mir eine Bindestrichseuche zu fördern, die man ja nicht ohne Not mitmachen muß. Was ist denn schon damit gewonnen, wenn man die Lexemgrenze durch den Bindestrich und Großschreibung des zweiten Nomens übermarkiert? Schöner wird das Schriftbild dadurch nicht; aber gut, über Geschmack kann man nur bedingt streiten.
Sie machen sich ja nicht explizit anheischig, einen strengen Beweis dafür zu führen, daß die Apostrophitis kein Beispiel für Denglisch sei, legen diese These aber doch zumindest nahe. Ihre “Beweisführung” mithilfe von Belegen vor allem aus dem 19. und früheren Jahrhunderten kann diese These gar nicht hinreichend untermauern. Die Tatsache, daß die Groß- und Kleinschreibung im Deutschen erst eine relativ junge orthographische Norm ist, würde auch nicht belegen, daß es nichts mit Denglisch zu tun hätte, wenn man in unserer Zeit beobachten würde, daß sich eine “gemäßigte Kleinschreibung” ausbreitet.
Um Ihre Leugnung des denglischen Einflusses zu stützen, müßte man m. E. quantitative Erhebungen über die Verwendung des Apostrophs für den Zeitraum etwa 1920–1960 und dann, mit zunehmender zeitlicher “Auflösung”, 1970 bis zur Gegenwart anstellen. Meine Behauptung wäre, daß man sehr wohl feststellen würde, daß der Apostroph im erstgenannten Zeitraum wesentlich seltener und außerdem regelgerechter verwendet wird als in den letzten etwa 20 Jahren (also in dem Zeitraum, der durch besonders intensiven englisch/amerikanische Einflüsse geprägt ist). Abgesehen davon, daß man wohl für den letztgenannten Zeitraum ein allgemeines Abnehmen der Beherrschung von Sprachnormen (insbesondere von orthographischen) konstatieren kann, ist die Hypothese, daß der Grund für die Apostrophitis im Einfluß des Englischen zu suchen sei, dann doch die naheliegendste, u. a. eben weil sie in der Werbesprache wohl am verbreitetsten ist und diese ja allgemein ganz besonders denglisch geprägt ist.
Wohlgemerkt, diese Behauptung widerspricht nicht Ihrer These, daß sich bei der regelwidrigen Verwendung des Apostroph ein “Gefühl” für Morphemgrenzen zeigt; das ist wohl so. Damit wird aber nicht erklärt, wieso dieses Gefühl sich in neuerer Zeit häufiger gegen die Regeln durchsetzt als früher.
[Amn. des IAAS-Administratorenteams: Danke für den Hinweis mit dem falschen Genus! Wir haben das korrigiert.]
In dem Artikel steht:
“Haben die Apologeten der Apostrophe recht mit diesen Annahmen? Ist man ein Depp, wenn einem ein Deppenapostroph herausrutscht? Handelt es sich um eine Unsitte aus dem Englischen?”
Die Frage ist hier: Was ist ein Apologet? Passt jedenfalls gut zu Apostroph, fängt ja auch mit “Apo” an; Apotheker ginge vielleicht auch.
Helmut, die Wikipedia hätte Ihnen da vielleicht weitergeholfen:
Ein Apologet der Apostrophen ist demnach ein Vertreter der apostrophischen Apologie, die die Schreibung des Apostroph in Deutschland (irrigerweise) als Teil einer vernünftigen Orthografie aufzeigt und gegen Angriffe anderer Orthografien und rechtschreiberischer Philosophien verteidigt.
Was dagegen der von Ihnen vorgeschlagene „Apotheker der Apostrophen“ sein soll, kann ich Ihnen nicht genau sagen. Einer, der „falsch“ verwendete Apostrophen mit heilsamen Tinkturen versorgt, vielleicht?
Apotheker sind das genaue Gegenteil der Apologeten: Die verkaufen die Apostrophen so teuer, dass sie keiner mehr benutzt. Und wenn jemand billigere anbietet, schießen sie ihn vom Markt. Wohingegen die Apologeten ja eher Anhänger einer Apotheose der Apostrophen sind; und Zugänge zum Göttlichen werden meist billig gehalten …
Anatol, Sie haben korrekt recherchiert. Nun fehlt nur noch die Schlussfolgerung:
Ihr Text sollte also in Ihrem Sinn richtig lauten “Haben die Apostrophenjäger recht …”.
Aber es macht keinen Spass, wenn man einen ironisch gemeinten Kommentar zu einem Fall von genau umgekehrter Verwendung eines Fremdworts auch noch erläutern muss. Besser ist da schon die kreative Interpretation des Apothekers in Kommentar 7. Darauf wäre ich nicht selbst gekommen.
Nach dem Exkurs über Apologeten und Apotheker würde ich gerne noch einmal den internationalen Aspekt des Themas aufgreifen.
Wie Hartwig in (4) geschrieben hat, scheint der Missbrauch des Genitiv-Apostrophs in den letzten 20 Jahren erheblich zugenommen zu haben, und ich meine auch, in etwa ähnlichem Maße, wie wir selbst im Deutschen Sprachraum dem Englischen stärker ausgesetzt sind. Ein Beweis für den Ursprung des Genitiv-Apostrophs ist das nicht, aber ein starkes Indiz sicherlich.
Für das Plural-Apostroph habe ich noch eine andere, ebenfalls internationale Erklärung.
In dem Unternehmen, in dem ich arbeite, sprechen wir etwa 30 verschiedene Sprachen, weswegen “logischerweise” Englisch die hauptsächlich verwendete Kommunikationssprache ist. Nun kann man beim gesprochenen englischen Wort fast sicher auf die Muttersprache schließen, denn jeder bringt seine Satzmelodien mit, egal wie britisch oder US-amerikanisch er seine einzelnen Worte ausspricht. Erst neulich aber — und jetzt kommt gleich das Argument — ließ sich Ähnliches auch in einer englischsprachigen Präsentation finden: das Plural-Apostroph verteilt über mehrere Seiten. Nach der Präsentation habe ich den Kollegen darauf angesprochen, dass er wohl nie den Genitiv sondern immer den Plural gemeint habe. Das hat er auch gerne bestätigt: “Und im Niederländischen setzen wir hier eben ein Apostroph.”
Es könnte also sein, dass auch das Plural-Apostroph im Deutschen zumindest teilweise aus anderen, wenn auch nicht englischsprachigen Ländern, hereingeschwappt ist — oder noch schwappt.
Zu Thomas Mann: Ein paar Beispiele für seinen Umgang mit dem Genitiv-Apostroph habe ich in meinem Beitrag auf den Störsignalen angeführt: http://www.stoersignale.de/blog/2008/04/deppen-deppen‑d.html.
Es gibt natürlich noch sehr viel mehr Belege.
Pingback: Vom typographischen Fliegendreck | gnaddrig ad libitum