Wer seinen Kindern vor dem Einschlafen vorliest, weiß, wie schwer es ist, gute Kinder- und Jugendbücher zu finden (vor allem, wenn man nicht noch eine Geschichte über ein Pferd lesen möchte, das vor dem Abdecker gerettet werden muss). Und wer irgendeinen Beruf außer Lokomotivführer oder Märchenprinzessin (oder Abdecker) ausübt, weiß, wie schwer es ist, seinen Kindern zu erklären, womit man eigentlich sein Geld verdient.
Als ich vor einigen Monaten auf eine Rezension von Elisabeth Zöllners Jugendroman „Ich knall ihr eine! Emma wehrt sich“ (2001, Thienemann; Neuauflage 2005, Omnibus) stieß, dachte ich, dass ich vielleicht beide Probleme auf einmal lösen könnte.
Gut, eigentlich dachte ich das nicht — die Geschichte von Emma und Eva und Gewalt in der Schule kam mir gleich arg schablonenhaft vor. Aber: Emmas Mutter ist Sprachforscherin! Linguisten kommen in Romanen vergleichsweise selten vor, und so witterte ich meine Chance, mit dem abendlichen Vorlesen auch Einsichten über meinen Beruf zu vermitteln.
Also habe ich mir das Buch bestellt, und über Ostern hatte ich endlich Zeit, es mir genauer anzusehen. Das war eine ziemliche Enttäuschung: die Geschichte ist schwach und die Figur der Mutter gibt aus sprachwissenschaftlicher Perspektive nicht allzuviel her. Glücklicherweise kommt sie in der Geschichte so gut wie gar nicht vor; hier ist die gesamte Passage, in der von ihrem Beruf erzählt wird:
Emmas Papa, Karl-Christian Grünschnabel, ist Professor. Und ihre Mama, Henriette Kühnemund, ist Sprachforscherin. Emma nennt sie meistens die Henriettenmama. Die Henriettenmama schreibt auch Gedichte, wunderschöne Gedichte, aber auch solche, die Emma nicht versteht. […]
(Das ganze Buch ist übrigens in diesem Stil gehalten).
Henriettenmama untersucht zurzeit Kinder- und Jugendsprache. Also sollte sie ja eigentlich wissen, wie man in Emmas Alter spricht. Trotzdem kriegt sie immer einen Riesenschreck, wenn Emma mal ein bisschen cooler redet. Alle anderen dürfen das, nur Emma nicht. Bloß nicht.
„Aber Emma“, sagt sie dann.
[…]
„So eine Sprache. Dabei ist Emma erst in der Vorpubertät!“, meint Henriettenmama heute beim Frühstück zu Karl-Christian, ihrem dauernd Zeitung lesenden Mann.
Und vor lauter Aufregung nimmt Henriettenmama ihre Puderquaste aus dem Handtäschchen und pudert sich die roten Flecken weg, die sie immer bekommt, wenn Emma so spricht. Dann zieht sie ihre Lippen mit dem Lippenstift nach. (S. 17–19)
Eine Sprachforscherin mit sehr präskriptiven Vorstellungen, was das sprachliche Verhalten ihrer Tochter betrifft. Dabei lassen ihre eigenen Tischmanieren einiges zu wünschen übrig, wenn sie sich tatsächlich am Frühstückstisch pudert und schminkt. Außerdem muss sie ein außergewöhnlich dünnes Nervenkostüm haben, wenn man sich einmal ansieht, welche Wörter es sind, die das Nachschminken nötig machen: „Echt, ey, voll geil, ey, total krass“ (S. 30). Alles Wörter, die ich an gutgelaunten Tagen sogar in Vorlesungen verwenden würde (aber Bremen ist natürlich auch keine Eliteuni)…
Trotz allem kann einen die Henriettenmama zum Nachdenken anregen: Sprachwissenschaftler und andere Menschen, die sich professionell mit Sprache beschäftigen, haben in der Ausübung ihres Berufes normalerweise ein relativ abgeklärtes Verhältnis zu Sprache in allen ihren Erscheinungsformen. Sie wissen, dass es keine „schlimmen Wörter“, keine „schlampige Aussprache“ und keine „schlechte Grammatik“ gibt, sondern dass es relativ beliebige gesellschaftliche Regeln dafür gibt, welche Wörter, lautlichen Ausdrucksformen und grammatischen Strukturen in welchen Situationen als akzeptabel gelten. Aber auch wenn das beliebige Regeln sind, haben sie als Eltern eine gewisse Verpflichtung, ihren Kindern diese Regeln zu vermitteln — ebenso, wie sie ihnen die beliebige Regel vermitteln, dass die linke Hand beim Essen auf den Tisch gehört (in Deutschland — in anderen Ländern, etwa in Großbritannien und den USA, gehört sie unter den Tisch).
Aber wie macht man das, ohne seinem eigenen Sprachverständnis untreu zu werden? Ich wurde vor einigen Jahren unvorbereitet mit diesem Problem konfrontiert als ich meinem Bruder von einer „voll geilen Idee“ für ein Forschungsprojekt erzählte und meine vierjährige Tochter sich mit der Beobachtung einmischte: „Du Papa, geil ist ein hässliches Wort“ (noch einmal herzlichen Dank dafür an den Kindergarten, der es merkwürdigerweise nie geschafft hat, ihr dasselbe ästhetische Empfinden auch unaufgeräumten Kinderzimmern gegenüber zu vermitteln).
Was sollte ich tun? Sollte ich ihr Recht geben um die Autorität der Kindergärtnerin nicht zu untergraben und um meine Tochter davor zu bewahren, das Wort geil womöglich einmal unangemessen zu verwenden? Oder sollte ich ehrlich sein und ihr sagen, dass es keine schönen oder hässlichen Wörter gibt sondern nur solche, mit denen man ausdrücken kann, was man gerade denkt?
Ich habe mich dann für die Wahrheit entschieden, allerdings für die ganze Wahrheit: „Geil ist genauso schön oder hässlich, wie jedes andere Wort. Aber es gibt sehr viele Menschen, die das Wort nicht mögen und die einen für grob und dumm halten, wenn man es benutzt“.
Diese Erklärung hat meiner Tochter sofort eingeleuchtet und so habe ich sie seitdem häufig verwendet, wenn es um tabuisierte Wörter oder Tischmanieren ging. Aber meistens freue ich mich zu sehr über die sprachlichen Äußerungen meiner Kinder, Neffen und Nichten, um spracherzieherisch tätig zu werden. Und solange sie die linke Hand beim Essen nicht im Essen haben, ist mir eigentlich auch egal, ob sie auf oder unter dem Tisch liegt.
Danke, Anatol, der Text hat mir sehr gut gefallen. Schon wegen der Puderquaste. Und wegen der Erkenntnis bei mir: Wir können unsere Kinder sowieso kaum sprachlich erziehen. Die reden nämlich dreisterweise so, wie sie es von uns hören.
Unser Sohn wird daher leider von manchen Schulkameraden hier in Berlin Neukölln nicht verstanden. Und das vielleicht nur, weil ihm abends vorgelesen wird?