Auf dem Heimweg am Donnerstagmittag habe ich folgende Behauptung im Deutschlandfunk gehört:
Die deutsche Sprache verfügt über eine Eigenschaft, die sie nur mit wenigen anderen Sprachen teilt: sie kann zusammengesetzte Substantive bilden. Verfassungspatriotismus. (DLF, 2007-04-05 12:29)
Ich habe nicht genau mitbekommen, warum dieser Satz fiel, weil ich damit beschäftigt war, ihn für die dieswöchige Presseschau festzuhalten. Das ist bei 140 km/h auf der A1 nicht einfach und nicht zur Nachahmung empfohlen, aber für die werten Leserinnen und Leser des Bremer Sprachblogs ist mir kein Risiko zu hoch. Ich habe dann zuhause festgestellt, dass es sich um einen Verweis auf ein bereits am 1. April ausgestrahltes Essay des Rechtswissenschaftlers Dieter Simon zur europäischen Verfassung handelte, das inzwischen auch auf der Webseite des DLF zu finden ist und das mit dem ersten Satz dieser Behauptung beginnt.
Ob das Essay selbst etwas taugt, kann ich nicht beurteilen (interessant zu lesen war es allemal), aber dieser erste Satz entbehrt jeder Grundlage. Zusammengesetzte Substantive im weitesten Sinne dürften (fast) alle Sprachen haben. Ich nehme aber an, der Begriff soll sich hier speziell auf Nominalkomposita beziehen, also auf Substantive, die aus mehreren Substantiven (und manchmal zusätzlich aus Bindemorphemen wie ‑s-) zusammengesetzt sind (Verfassungspatriotismus = Verfassung + Bindemorphem + Patriotismus; Patriotismusdebatte = Patriotismus + Debatte). Solche Nominalkomposita gibt es tatsächlich nicht in allen Sprachen und in den Sprachen, in denen es sie gibt, sind sie nicht immer ein so beliebtes Mittel zur Wortbildung, wie im Deutschen. Beliebte Alternativen sind Kombinationen aus Substantiv und Adjektiv oder Possessivkonstruktionen. Im Spanischen beispielsweise wird Verfassungspatriotismus meistens als patriotismo constitucional („konstitutioneller Patriotismus“) und manchmal als patriotismo de la constitución („Patriotismus von der Verfassung“) übersetzt.
Nichtsdestotrotz stimmt es nicht, dass nur „wenige andere Sprachen“ über Nominalkomposita verfügen. Genaue Statistiken sind mir nicht bekannt, aber wenn ich zu einer Aussage gezwungen wäre, würde ich eher sagen, dass es Nominalkomposita in der Mehrheit der Sprachen der Welt gibt. Ich habe mit eigenen Augen Nominalkomposita in allen germanischen Sprachen, in mehreren slawischen Sprachen, im Chinesischen, im Japanischen, im Koreanischen, im Türkischen, im Hebräischen, in einer Reihe von tibeto-burmesichen Sprachen, Hmong-Mien-Sprachen und athabaskischen Sprachen gesehen — und das sind nur die, die mir spontan einfallen. Selbst in den romanischen Sprachen, die für ihre Abneigung gegen Nominalkomposita bekannt sind, findet man bei näherem Hinsehen eine ganze Menge davon (siehe z.B. Baroni, Guevara und Pirelli, im Druck).
Nun könnte man einwenden, dass Dieter Simon Rechtshistoriker ist und dass es in dem Essay ja auch gar nicht um Sprache geht. Simon hat diesen Satz nur als Einstieg gewählt um den Begriff Verfassungspatriotismus einzuführen. Er hat sich eben eine kleine künstlerische Freiheit erlaubt. Aber das rechtfertigt doch nicht, dass man im Brustton der Überzeugung Unwahrheiten erzählt. Es scheint mir außerdem, dass es bestimmte Disziplinen gibt, die bezüglich „künstlerischer Freiheiten“ als vogelfrei betrachtet werden. Ernährungswissenschaften und Medizin, zum Beispiel, Psychologie und Anthropologie und eben auch Sprachwissenschaft. Die Mathematik und die Naturwissenschaften haben es da etwas besser. Ich würde mich beispielsweise sehr wundern, wenn ein Rechtshistoriker ein Essay mit einem Satz beginnen würde, wie „Die 32 hat eine Eigenschaft, die sie nur mit wenigen anderen Zahlen teilt: sie ist durch 2 dividierbar” oder „Die Eiche hat eine Eigenschaft, die sie nur mit wenigen anderen Bäumen teilt: sie betreibt Photosynthese” oder „Steine haben eine Eigenschaft, die sie nur mit wenigen anderen Objekten teilen: sie unterliegen der Schwerkraft“.
Irgendwie hat sich in den Köpfen der schreibenden Zünfte (oder zumindest im öffentlichen Diskurs) die Idee festgesetzt, dass man über bestimmte Aspekte menschlichen Handelns (wie die Sprache) alles behaupten darf, was einem gerade so einfällt. Ich glaube nicht, dass daran die Sprachwissenschaftler schuld sind aber es ist höchste Zeit, dass sie etwas dagegen unternehmen.
BARONI, Marco, Emiliano GUEVARA und Vito PIRELLI (Im Druck). Sulla tipologia dei composti N+N in italiano: Principi categoriali ed evidenza distribuzionale a confronto. Atti del 40esimo Congresso della Società di Linguistica Italiana (SLI). Roma: Bulzoni. [PDF]
[Hinweis: Dieser Text erschien ursprünglich im Bremer Sprachblog. Er ist hier unverändert wiedergegeben.]