Sprachen können sterben, weil ihre Sprecher sterben. Viele der derzeit fast siebentausend Sprachen der Welt haben nur wenige hundert Sprecher, die oft auf engem Raum leben. Deshalb können Kriege, Massaker, Hungersnöte, Epidemien oder Naturkatastrophen leicht mehrere Sprachen auf einmal auslöschen.
Um nur drei Beispiele zu nennen: in einem Zeitraum von weniger als hundert Jahren verschwanden alle indigenen Sprachen Tasmaniens, weil britische Siedler im sogenannten Black War in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fast alle tasmanischen Ureinwohner ermordeten. Hungersnöte in Irland als Folge von Kartoffel-Missernten zwischen 1845 und 1849 und die darauf folgende verstärkte Landflucht und Emigration trugen entscheidend zum Niedergang des irischen Gälisch bei. Ein Tsunami an der Nordküste von Papua-Neuguinea im Jahr 1998 tötete fast die Hälfte der damals etwa 2000 Sprecher des Arop-Sissano und machte eine Umsiedlung der Überlebenden in verschiedene Auffanglager nötig.
Sprachen können aber auch sterben, obwohl ihre Sprecher überleben. Der grobe Ablauf ist dabei stets derselbe. In einer ersten Phase entsteht eine Situation, in der die Sprecher einer Sprachgemeinschaft sich mit einer gesellschaftlich dominanten Sprache konfrontiert sehen, die nicht ihre Muttersprache ist. In der zweiten Phase reagieren diese Sprecher auf diese Situation, indem sie die dominante Sprache zusätzlich zu ihrer eigenen Sprache erlernen. Es entsteht eine mehrsprachige Gesellschaft, in der die dominante Sprache vorzugsweise im öffentlichen Leben gesprochen wird (in Schule und Universität, in den Medien, in Behörden und bei Gericht, usw.), während die ursprüngliche Sprache auf den privaten Bereich beschränkt wird. In einer dritten Phase geben dann die jüngeren Mitglieder der Gemeinschaft die ursprüngliche Sprache ganz auf und verwenden die dominante Sprache auch im privaten Bereich.
Die Ursachen für das Entstehen der sprachliche Dominanz in der ersten Phase und das Aufgeben der eigenen Sprache in der dritten Phase können dabei ganz unterschiedlicher Art sein. Die Dominanz entsteht im Normalfall durch Kolonialisierung oder durch militärische Eroberung, manchmal aber auch durch die kulturelle oder wirtschaftliche Vormachtstellung einer regionalen Supermacht.
Wenn die ursprüngliche Sprache aufgegeben wird, geschieht das manchmal aus einer freien Entscheidung der jüngeren Sprecher heraus, etwa, weil sie sich mit der dominanten Kultur identifizieren und die Sprache ihrer Eltern und Großeltern als „altmodisch“ oder „hinterwäldlerisch“ empfinden. In Irland findet sich diese Einstellung bis heute bei der gälischsprechenden Minderheit, die das (irische) Englisch mit dem modernen, urbanen Irland verbinden und sich für das Gälische schämen (in jüngerer Zeit ist hier allerdings eine erfreuliche Veränderung zu beobachten).
Häufig wird die Sprache aber auch durch direkte oder indirekte Zwänge aufgegeben. Direkte Zwänge können Sprachverbote der dominanten Kultur sein. So durften die Kurden in der Türkei bis 1991 ihre Muttersprache nicht in der Öffentlichkeit sprechen und auch heute tut sich die Regierung manchmal noch merkwürdig schwer mit dem Kurdischen. Indirekte Zwänge können wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Natur sein, etwa, dass Sprecher der ursprünglichen Sprache bei der Arbeitssuche Probleme bekommen, auch wenn sie die dominante Sprache beherrschen, oder dass sie gesellschaftlich diskriminiert werden.
Das alles führt dazu — man kann es gar nicht oft genug wiederholen –, dass am Ende dieses Jahrhunderts von den derzeit fast siebentausend Sprachen der Welt höchstens die Hälfte übrig sein wird. Das liegt zum einen daran, dass in vielen Regionen der Welt die offene oder versteckte Unterdrückung von Minderheitensprachen unvermindert andauert. Es liegt aber auch daran, dass viele der derzeit noch gesprochenen Sprachen eigentlich bereits tot sind, da sie nur noch von den älteren Mitgliedern der Sprachgemeinschaft gesprochen werden und ihr Verschwinden damit nur noch eine Frage der Zeit ist.
Was können Sprachwissenschaftler angesichts dieser Situation tun? Sie können eigentlich nur versuchen, möglichst viele dieser Sprachen zu dokumentieren, also mündliche Überlieferungen zu sammeln und zu verschriftlichen und die Aussprache, den Wortschatz und die Grammatik zu untersuchen und die Ergebnisse möglichst detailliert festzuhalten. Diese Materialien sind von großem wissenschaftlichen Interesse — sie helfen uns, die Funktionsweise menschlicher Sprachen zu verstehen. Sie sind aber auch von unschätzbarem Wert für die Nachkommen der heute lebenden Sprecher. Es kommt immer wieder vor, dass sich Menschen dazu entschließen, die Sprache ihrer Ahnen wieder zum Leben zu erwecken (zum Beispiel, viele Stämme der amerikanischen Ureinwohner), und das kann nur gelingen, wenn es ausführliche Grammatiken, Wörterbücher und Textsammlungen gibt. Wer diese Bemühungen unterstützen will, kann übrigens der Gesellschaft für Bedrohte Sprachen beitreten oder mit Spenden weiterhelfen.
Für Linguisten steht in dem Artikel nichts neues und der Inhalt ist auch nicht sonderlich kontrovers.
Ob man aus norddeutscher Sicht wirklich nach Irland blicken muss um Sprachenstreben zu belegen? Ist das Plattdeutsche nicht ein prima Beispiel für das Streben einer Sprache angesichts einer dominanten Sprachen?
fragt sich d;)
Dazu passt eine aktuelle Meldung aus den USA. Letzen Freitag hat der Sprachwissenschaftler Michael Krauss von der University of Alaska Fairbanks einen Vortrag zum Thema Sprachsterben auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science gehalten. Das Thema der Sitzung war das Phänomen des Aussterbens allgemein, und Krauss betont, dass dies im sprachlichen Bereich nicht minder katastrophal ist als in der Biologie (gefunden über LingNews).
Die Entwicklung des Irischen macht tatsächlich Mut, allerdings ist wohl so, dass vorwiegend junge Sprecher die Sprache verwenden, und zwar im Schulunterricht. In anderen Bereichen hat das Irische einen schweren Stand gegen das Englische, aber immerhin wird es von der Regierung gefördert, und die Einstellung zu dieser Sprache scheint sich zum Positiven zu wandeln.
Daniel, der Artikel und das Bremer Sprachblog sind auch weder vorrangig an Linguisten gerichtet, noch darauf aus, möglichst kontrovers zu sein. Dass man Beispiele für bedrohte Sprachen auch vor der eigenen Haustür finden kann, dürfte sich angesichts des massiven Sprachsterbens, dass uns in diesem Jahrhundert erwartet, von selbst verstehen. Warum man deshalb den tragischen Niedergang und die ermutigenden Lebenszeichen des Gälischen verschweigen sollte, ist mir nicht ganz klar.
Andreas, vielen Dank für den Hinweis! Mit dem irischen Gälisch hast du natürlich Recht, das Wiederaufleben hat etwas mit den gälischsprachigen Schulen zu tun, die im verlinkten Artikel erwähnt werden. Aber dass das Gälische sich gerade unter den jungen Sprechern wachsender Beliebtheit erfreut, ist doch doppelt erfreulich, denn die repräsentieren das Irland von Morgen!